16. Wirklichkeitsverdichter

Von den Dichtern können wir etwas über die Präzisierung des Blicks lernen. Sie zeigen uns kleine Sprünge in der Wirklichkeit und eröffnen damit eine Genauigkeit, die nur durch das Schauen erwirkt werden kann. Philippe Jaccottet, der 1925 im schweizerischen Waadtland zur Welt kam, ist ein solcher Wirklichkeitsverdichter. Sein umfangreiches, in französischer Sprache geschriebenes Werk umfasst Lyrik, Essays und Prosa, für die er mit vielen Preisen ausgezeichnet wurde wie etwa mit dem Petrarca-Preis und dem Friedrich-Hölderlin-Preis. Jaccottet hat hinzu Ossip Mandelstams Lyrik aus dem Russischen übersetzt.

Kaum ein zeitgenössischer Dichter hat so oft die inneren Landkarten und die Idee eines erweiterten Blicks umkreist und ist dabei wie Philippe Jaccottet ein genauer Beobachter seiner eigenen Zeit geblieben. Im deutschsprachigen Gebiet ist vor allem sein lyrisches Werk bekannt. Auch seine Betrachtungen über die Bilder von Giorgio Morandi haben ihre Leser gefunden, in denen er gleichsam aus der Stille der Gemälde heraus die Wirklichkeit der Pinselstriche sichtbar gemacht hat. In dem Gedichte- und Prosaband „Der Unwissende“ notierte er einmal, man müsse achtsamer denn je mit den Worten umgehen, jetzt, da Gott tot sei. / Marica Bodrozić, Ö1

Philippe Jaccottet, „Notizen aus der Tiefe“, aus dem Französischen übersetzt von Elisabeth Edl, Wolfgang Matz und Friedhelm Kemp, Hanser Verlag

4 Comments on “16. Wirklichkeitsverdichter

  1. „Von den Dichtern können wir etwas über die Präzisierung des Blicks lernen. Sie zeigen uns kleine Sprünge in der Wirklichkeit und eröffnen damit eine Genauigkeit, die nur durch das Schauen erwirkt werden kann.“

     „Die Lyrik ist ein Gebiet, auf dem jegliche Behauptung zur Wahrheit wird. Der Lyriker sagte gestern: ‚das Leben ist vergeblich wie das Weinen‘, heute sagte er: ‚das Leben ist froh wie das Lachen‘, und jedesmal hatte er recht. Heute sagt er: ‚alles endet und fällt in Stille‘, morgen sagt er: ‚nichts endet und alles klingt ewig‘, und beides gilt. Der Lyriker muss nichts beweisen; einziger Beweis ist das Pathoserlebnis.“

    Aus „Das Leben ist anderswo“ von Milan Kundera (Suhrkamp S.251)

     „An der Stelle, wo ein Text steht, hat die Wirklichkeit ein Loch.“ – KLAVKI
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    „man müsse achtsamer denn je mit den Worten umgehen, jetzt, da Gott tot sei.“

    Wie recht er hat!
    Manchmal scheint mir, dass die Schriftstellerfront sich in zwei Hauptströmungen teilt.

    So gibt es jene, die sich als Liebhaber der Sprache selbst verstehen. Jedes Wort eine kleine Liebesbotschaft, jeder Vers ein Kniefall vor der Kostbarkeit, Anmut, vor der Schönheit der Sprache. Diese Schriftsteller versuchen mit jedem Gedicht oder Text der Sprache ein neues funkelndes Kleid zu verleihen, sie in so vielen Farben wie möglich strahlen zu lassen – ja, einen kleinen Sprachgarten anzulegen (als sonnige, blühende Tempelstätte), in dem nur die entzückendsten und entrückendsten Ausdrücke gedeihen – ein Garten, aus dem mit Bedacht und Sorgfalt die schönsten Formulierungen ausgewählt werden, um sie in ein vollendetes Satzgeflecht hineinzuarbeiten. Diese Schriftsteller legen Demut an den Tag, ja sie ringen um jedes Wort, um Genauigkeit, streichen manchmal ganze Seiten, an denen sie tagelang gesessen haben, auf zwei besondere Sätze zusammen, arbeiten unermüdlich und mit überzeugter Selbstaufopferung, die märtyrerhaft anmuten mag, an ihren Werken, es sind die Schriftsteller, die auch sprachlos und staunend verstummen können…

    Und dann gibt es jene, die Sprache als Mittel zum Zweck gebrauchen – jene also, die eine Sache oder einen Gegenstand beschreiben, beleuchten, analysieren, kennzeichnen, charakterisieren, hinterfragen… etc. Sprache wird hier zum Beispiel als Kommunikationsmittel verwendet.
    Aber: Sie ist nicht mehr Selbstzweck.

    (natürlich ließe sich zu beiden Kategorien weitaus mehr sagen)

    Und wenn ich jetzt beide Richtungen betrachte, so leuchtet mir auch ein, warum es von der ersten Sorte weniger gibt (denn sie ist mit mehr (!) Opfern und Anstrengung verbunden) als von der zweiten Sorte, zugleich aber drängt sich mir die Erkenntnis auf, dass Mitglieder der zweiten Gruppe weitaus weniger mit sich hadern, ob sie einen Text veröffentlichen als erstere, sodass daraus (also aus dem unterschiedlichen Mengenverhältnis und der unterschiedlichen Hemmschwelle)
    ein unausgewogenes Verhältnis von Texten (wobei ich „Text“ als Oberbegriff für jede Form literarischen Schaffens verwende) innerhalb der Literatur entsteht, und das doch manchmal zu Ungunsten der Gesamtqualität…

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    • Mir scheint diese Sicht interessant, aber nicht ganz nachvollziehbar. Warum sollten Wirklichkeitsverdichter keine Liebhaber der Sprache sein. Die Wirklichkeit poetisch zu beschreiben, bedeutet nicht, dass Sprache nur als funktionales Kommunikationsmittel betrachtet wird, und umgekehrt bentutzen auch diejenigen, die unermüdlich an der Sprache feilen, Sprache als Kommunikationsmittel. Zudem glaube ich: es gibt nicht nur das Entweder-Oder sondern weit öfter das Sowohl als Auch. Und das Funkeln kann sowohl im Einen als auch in Anderen aufscheinen.

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      • Ja. Ich muss Dir zustimmen, teilweise. 😉

        Dass meine Antwort hier irgendwie nicht ganz kompatibel wirkt, ist wohl vor allem darauf zurückzuführen, dass sie tatsächlich auf einen ganz anderen Beitrag die Reaktion darstellte – auf einen Beitrag, der hier schon vor einiger Zeit in der Lyrikzeitung auftauchte. Allerdings hätte meine Antwort dann in einem sehr polemischen Licht geschienen, und in einem zu übermütigen, wenn man bedenkt, dass ich noch nicht viel über diesen meinen eigenen Eindruck nachgedacht habe – er also, wie Du schon erkannt hast, Denklücken enthält. Ich fand nur irgendwie, dass diese eine Aussage „man müsse achtsamer denn je mit den Worten umgehen“ ein bisschen meine Empfindungen widerspiegelte (was auch nur ein Reininterpretiertes sein kann).

        Meine Antwort war also vielmehr ein Hinterhergeschrienes – de facto Unüberlegtes. (was mich schon wieder in ganz andere Überlegungen stürzt)

        Eins muss ich aber bestreiten: meine Antwort bezog sich nur auf diese eine Aussage, deswegen zitierte ich sie auch, nicht auf den gesamten Beitrag „Wirklichkeitsverdichter“ – sodass der Beitrag also insgesamt in keinem gegenteiligen Verhältnis zu meiner Antwort stehen muss

        „Es gibt nicht nur das Entweder-Oder sondern weit öfter das Sowohl als Auch. Und das Funkeln kann sowohl im Einen als auch in Anderen aufscheinen.“

        Völlig D‘accord! Der letzte Satz gefällt mir übrigens ausgezeichnet.

        „Mir scheint diese Sicht interessant, aber nicht ganz nachvollziehbar.“

        Das schreit ja förmlich nach einer Überarbeitung meiner Aussage?

        PS: Ich habe meine Sicht auf den Wert von Worten verändert, als mir jemand begegnete, der sich tatsächlich bei jedem Gedanken, bei jeder Idee auf das ihm höchstmöglichste Niveau von Sprache begeben wollte und konnte. Selbstverständlich benutze er die Sprache auch als Kommunikationsmittel – aber er tat eben noch mehr damit, er spielte mit ihr, reizte sie aus und sprach immer so, dass man es nicht besser oder anders hätte formulieren können. Demgegenüber stehen einfach zu viele Menschen, die sagen wir, Sprache nachlässig gebrauchen (mich kann ich leider nicht ausschließen), deren „Beliebigkeitsworte durch andere nichtsbedeutende Beliebigkeitsworte“ ersetzt werden könnten, ohne dass es einen merklichen Unterschied beim Gesagten hinterließe.

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  2. oh, das klingt spannend, vielen dank für den lesetip! hoffentlich ists nicht zu teuer… hanser, naja… ich muß gestehen, ich hab den namen des dichters noch nie gehört! der französische ernst meister??? oder wie oder was 🙂

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