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Der Hype um den angesagten Szene-Bezirk Mitte, verpackt in ein Gedicht mit dem Titel „Mitteboy“: „Nichts wie hin, Mitteboy/ist doch der Kick!/Wie Glitterati ihren Spieltrieb inszenieren-/ komm reservieren wir der Mimik/einen Tisch im VIPrevier./Die goldene Regel laute:/ Trau keiner Hysterie,/die sich nicht selbst kopiert.“ Nur eine der vielen, alltäglichen Beobachtungen, die Boris Preckwitz literarisch verarbeitet.
Der in Berlin lebende Autor will in seinem neuen Poetry-Band „szene leben“ die Gesellschaft als Ganzes widerspiegeln. Neokommunisten, Broker, Models oder geneppte Städtereisende: Sie alle werden unter die Lupe genommen. Die Ästhetik der Texte basiert auf der Kombination von Sprache und Form. Die Gedichte funktionieren auf diese Weise „on page and on stage“, also sowohl in schriftlicher als auch in vorgetragener Form. So lautet auch der Untertitel von „szene leben“ „poems und performance“. Mitte der 1990er ist Boris Preckwitz als Student in London auf die dortige Poetry-Slam-Szene aufmerksam geworden, jener aus den USA stammenden Form des öffentlichen Lesewettbewerbs, bei dem Autoren mit eigenen Texten um die Gunst des gesamten Publikums oder einer ausgewählten Jury konkurrieren. Nach seiner Rückkehr veranstaltete und moderierte Preckwitz Poetry Slams in Hamburg und gilt somit als Wegbereiter der deutschen Poetry-Slam-Szene.
Identisch laufen deutsche und amerikanische Poetry Slams nicht ab: Hierzulande werden die Vorträge zumeist vom gesamten Publikum per Applaus bewertet, während in den USA eine kleine Jury aus den Zuschauern gewählt wird. Bei amerikanischen Slams gibt es oft einen festen Programmablauf, in Deutschland steht der reine Wettkampf im Mittelpunkt. In den deutschen Slam-Zentren, zu denen auch Berlin zählt, haben sich zudem unterschiedliche Stile und Lokalkolorite etabliert. Mittlerweile finden allein im deutschsprachigen Raum 70 regelmäßige Slams statt, die Fangemeinde ist groß. Jeder kann dabei jeden kommentieren: Der Abschied vom Autor als autonomen Kunstschaffenden, manifestiert in Live-Literatur. / Maria Selchow, Berliner Morgenpost 20.11.
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