104. „Candide“

Voltaires Roman „Candide oder Der Optimismus“ erschien erstmals 1759. In der Vorbemerkung zur zweiten Auflage wird das Werk als Übersetzung aus dem Deutschen ausgegeben. Der Übersetzer, ein gewisser Dr. Ralph, sei 1759 in Minden verstorben. Der deutsch-französische Literaturpreis „Candide“ wird vom Literarischen Verein Minden, der Stiftung Genshagen und dem französischen Kulturministerium. Im Candide-Jahr 2009 ging er an den deutschen Schriftsteller Volker Braun und die französische Autorin Olivia Rosenthal. Die Preisverleihung fand am vergangenen Wochenende auf Schloss Genshagen statt. Die Süddeutsche Zeitung druckt am 19.11. die Dankesrede von Volker Braun und einen Auszug aus der Laudatio von Lothar Müller. Auszug aus Brauns Rede:

„Ah, Candide“, rief ein Philosoph aus der Leipziger Tieflandbucht, „noch zugange?“ – „Rollen muß es!“ entgegnete der, und Bloch sah, daß er ein wenig närrisch geworden war; „ça va? ça va?“ – „Ça ira!“ schrie Candide und hieb auf den Boden ein, „hasta la vista, dawai!“ Ungeachtet des Unfugs umarmte ihn der Philosoph und tönte seinerseits brimboriummäßig: „Ja, es wird gehn. Die rechte Genesis ist kein Fiat, gar Faktum des Anfangs, sondern ein Unterwegs und Problem des Endes. Derart sei übers Schicksal, das nicht unabwendbare, in deinem Garten ruhig.“ – „In meinem Garten?“ – „Einen größeren Garten jedoch vorausgesetzt und keinen aus der Welt ausgesparten, sondern aus ihr selber erforschten, tapfer bestellt! In der Welt muß man selbst nach dem Rechten sehen, dann ist Segen dabei und Optimismus mit Trauerflor, kämpfend.“

Er trug tatsächlich ein schwarzes Band am Arm, und sein ganzes Werkzeug waren solche Begriffe, und man machte sich über ihn lustig. „Im Garten arbeiten“, maulträtierten sich die Laubenpieper und Gartenvereine und sozialdemokratischen Regierungen. Das konnte nur häckeln und harken und nicht an die Wurzeln gehen und redete über Rabatten, darum wählte man sie nicht. Im Gegenteil zeigte das Volk seine unaufgeklärte Tendenz und ließ die Länderei liegen und wich hinaus. „Wo wollt ihr hin?“ frug Candide. – „Wir wollen in das beste Land: Westfalen.“ – Westfalen gibt es nicht mehr. Das ist die Welt.

Das sagten die mächtigen Medien, die es wußten und die Menge fütterten mit wahren Schrecken und falschen Tatsachen, die sie nicht erfinden mußten. Notleidende Banken, abgesegnete Armut. Unerklärliches Unrecht, unerklärter Krieg. Die schizophrenen Panglosse druckten es frisch, und das tägliche Blatt hieß DIE BESTE WELT.

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