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Ehrliche Fälschungen
Ausstellung mit Valeri Scherstjanoi und Carlfriedrich Claus
Einige Einblicke.
Von Bertram Reinecke (Leipzig)
Als Valeri Scherstjanoi erzählte, wie stark er von Carlfriedrich Claus beeinflußt wurde, wie er beinahe verrückt wurde über dessen Arbeiten, wie er sich zeitweise derart mit dessen Ansatz identifizierte, dass er gar dessen Handschrift erlernte, war mir sofort klar: Ich will das nicht nur selber sehen, das geht auch andere an.
Nun ist so etwas eine Zumutung für einen Künstler und wir haben Scherstjanoi zu danken, dass er offen genug war, sich dem Ansinnen, diese Arbeiten öffentlich zu zeigen, nicht zu verweigern. (Er hat über die Jahre teilweise eine große Distanz zu ihnen gewonnen.)
Diese Zumutung ist einerseits eine menschliche: Es war, äußert Scherstjanoi, wenig angenehm, mit dem Blick in die alten Mappen fortgerissen zu werden in eine schlimme Zeit, in der er, aus Russland mit dem Versprechen eines menschlichen Sozialismus in die DDR gelockt, allein in einem fremden Land seinen Weg zu finden hatte. (Insofern mag, wie zermürbend die Auseinandersetzung mit Carlfriedrich Claus auch immer gewesen ist, diese aber auch immer seine Balancierstange über einem Abgrund gewesen sein.)
Zweitens ist es sicher wenig angenehm sich selber als einem Fremden zu begegnen. „Wer war da in meinem Kopf.“ Immer wieder war dieser Satz zu hören als wir gemeinsam die alten Ordner durchblätterten.
Die Zumutung ist vor allem aber auch eine künstlerische: Wer seine Vorgeschichten und Abhängigkeiten offenlegt, stellt in den herrschenden Diskursen, die, vielleicht weil sie einem pseudoromantischen Geniegedanken immer noch nachhängen, die Geschichte der Avantgarde als eine Folge radikaler Brüche darstellen[1], seine Integrität als moderner Künstler zur Disposition.
Man sieht es mancherorts nicht gern, dass Kunst nicht nur mit Können, Wollen und Ausprobieren zu tun hat, sondern auch mit (Aus-) Üben. So wird zumindest Schriftstellern eher Weltkenntnis abverlangt als Umgang mit der eigenen Materie. (Deutsch kann ja jeder.)
Und auch Ausprobieren wird von den Apologeten der Moderne lieber mit Mut und der Anerkennung für das Beschreiten neuer Wege in Verbindung gebracht als mit Fehlschlagen, was ebenfalls ganz natürlich in diesem Wort steckt.
Nach diesen Bemerkungen sei allerdings betont: Scherstjanois Arbeiten, auch da, wo sie sichtlich große Ähnlichkeit mit denen des Vorbilds haben, sind durch die Intensität der Auseinandersetzung, die sich nicht zuletzt in der Intensität der Scherstjanoischen Arbeiten selbst widerspiegelt, sichtlich über den Status reiner Stilübungen hinausgehoben.
Auch wenn die Ähnlichkeiten teilweise derart beträchtlich sind, dass selbst ein kunstgeschultes Auge, so lange man nicht sehr nahe herantritt, sie nicht von Claus‘ Arbeiten unterscheiden kann.
Sieht man sich die Arbeiten jedoch im Detail an, werden symptomatische Unterschiede sichtbar. Wo sich auch die feineren Strukturen bei Claus oft als Buchstabenschriften erweisen, lösen sie sich zum Beispiel bei Scherstjanoi häufig in Wellenlinien auf. Findet sich hier etwa in nuce die Abkehr von einer am semantischen Unterschied hängenden Notation bereits angelegt?
Aus dieser Beinaheverzweiflung am Gegenstand zeigt die Ausstellung exemplarisch zwei Wege zur von Valeri Scherstjanoi ausgearbeiteten Kunstform der „Ars Sribendi“, die er einerseits als „scribentische Notation“, andererseits „Poesia Sonora“ fasst. (Er wird zur Finissage aus seinen Federzeichnungen lesen.)
Der eine Weg zeigt an den Glasnost-Arbeiten der späten Achziger das Weiterschreiten der inhaltlich semantischen Auseinandersetzung auf. Carlfriedrich Claus hat ja seine Sprachblätter weniger gezeichnet, denn als Essays verfasst. (Wie Scherstjanoi begriff er sich nie als bildender Künstler, auch wenn beide in diesem Kontext oft stärker wahrgenommen wurden als von der Literatur.) Dem utopisch schamanischen Kommunisten Claus steht Scherstjanoi mit seinem Interesse an konkreten gesellschaftlichen Verbesserungen gegenüber, dem Philosophen ein Scherstjanoi mit dem Glauben an die Utopie der reinen Stimme. Glasnost, darauf weist Valeri Scherstjanoi hin, bezeichnet auch den Kirchengesang, bedeutet auch die zur Rede mit Gott befreite Stimme.
Stilistisch orientieren sich diese Arbeiten eher am russischen Futurismus-Konstruktivismus.
Ein zweiter Strang deutet den Weg von Clausschen Ausdrucksgebilden zu oft schon notativ repetetiven Strukturen an.
Freilich bei einem so hartnäckig suchenden Künstler wie Valeri Scherstjanoi, dessen Entwicklung von zahlreichen Rückgriffen und Wiederaufnahmen geprägt ist, der zusätzlich zeitweise mit den DDR-spezifischen Problemen eines fehlenden öffentlichen Resonanzraumes zu kämpfen hatte, muss eine solche gradlinige Darstellung eher eine Konstruktion sein als eine historische Wahrheit. Zumal ganz praktisch die Verhältnisse aus zwei Gründen im zeitgeschichtlichen Nebel verschwimmen. Einerseits musste Valeri Scherstjanoi in schlechten Zeiten einige der Clausarbeiten, die als ständig gegenwärtige Grundlage zur Auseinandersetzung bereitstanden, veräußern. Ließen sich diese Werke vielleicht noch versammeln, bliebe ein anderes Problem: Valeri Scherstjanoi hat die Angewohnheit, ältere Werke zu zerscheiden und neu collagiert z.B. als Neujahrspostkarten zu versenden. (Auch solche Beispiele zeigt die Ausstellung.)
Tondokumente aus dem Archiv Valeri Scherstjanois können in der Ausstellung ebenfalls angehört werden. Unter anderem auch Sprechkasetten, die nur zum persönlichen Gebrauch als Kontroll- und Übematerial gedacht waren, aber durch ihre suggestive ruhige Kraft zum meditativen Mitvollzug einladen. Der Künstler weist jedoch darauf hin, dass die hier vorgestellten Tondokumente aus den achtziger und frühen neunziger Jahren seinen heutigen ästhetischen Maßstäben teilweise nicht mehr entsprechen.
Blaue Übungskasette: Tonmaterial zum Hörspiel Matrjoschka, zweite Aufnahme:
Auschnitt aus: Schwarze Übungskasette:
Welimir Chlebnikov: „Heupferdchen“ und „Mein weißes göttliches Gehirn habe Russland ich dir vermacht …“ Mittschnitt aus der Veranstaltung „Segel der Zeit“ anlässlich des hundertsten Geburtstags von Welimir Chlebnikov im Lindenau Museum Altenburg 1985.
Heupferdchen:
Mein weißes göttliches Gehirn habe Russland ich dir vermacht:
[1] Der Kunstkritiker Daniel Buren thematisisert dieses Phänomen in seinem immer noch lesenswerten Aufsatz „Bezugspunkte“. Während die Künstler des Bruches mit radikaler Allüre die Fragen der Vorgänger mit totalitärer Geste aus dem Weg schaffen ohne sie zu beantworten, setzt er dagegen auf die andere Seite Künstler des Risses, die sich tatsächlich auf die Suche nach Antworten auf aufgeworfene künstlerische Fragestellungen begäben. Er merkt an, dass die Künstler des Bruches dem Publikumsgeschmack entgegen kommen, insofern sie in der Regel spektakulärer seien und weniger rezeptive Kenntnisse verlangten.
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