39. Étrangeté

Auf einer Berliner Theaterpremiere, die einerseits eindrucksvoll und andererseits so verstörend war, dass, als der Schlussapplaus vorüber war, auch professionelle Verfertiger von Meinungen und Urteilen sich erst mal ein Getränk holen und dann, im Gespräch mit den anderen, langsam sich herantasten mussten an die Frage, was genau man da jetzt gehört und gesehen habe (was ja eher für als gegen Stück und Inszenierung sprach) – auf dieser Premierenfeier, neulich, bstand da, breitbeinig auf dem sicheren Boden seiner Werte und Überzeugungen, auch der Außenminister und Kanzlerkandidat, lächelte, gratulierte dem Autor und machte, durch Mimik und Körpersprachev, deutlich, dass er jedenfalls nicht verstört, ratlos, unsicher war. Er schien nicht einmal zu ahnen, dass eine gewisse „étrangeté“ in der Kunst, ein Fremdsein vor einer Inszenierung, die es ihren Zuschauern ja nicht einfach machen wollte, ihm viel besser gestanden hätte. Die Schriftstellerin Julia Franck, so erzählt sie es auf der Internetseite der Initiative „Steinmeier wird Kanzler“, hat dem Kandidaten einen dicken Band voller Lyrik geschenkt – womöglich traut sich Steinmeier ja bei der Lektüre, wenn keiner ihm zuschaut, ein wenig ratlos zu sein. /  Claudius Seidl, FAS 9.8.

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