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Vorzüglich kommentiert ist auch die Auswahl Christoph Michels aus Herders Sammlung von Volksliedern. So schildert der Herausgeber Herders Mühen bei der Übersetzung des „Ännchen von Tharau“. Der Kommentar kontrastiert das Original in preußischem Plattdeutsch („Anke van Tharaw öß, de my geföllt / Se öß mihn Leven, mihn Goet ön mihn Gölt. // Anke van Tharaw heft wedder eer Hart / Op my geröchtet ön Löw‘ on ön Schmart.“) und zitiert Herder: Das Lied „hat sehr verloren, da ich’s aus seinem treuherzigen, starken, naiven Volksdialekt ins liebe Hochdeutsch habe verpflanzen müssen“. Neben alten und veränderten Texten – so etwa Goethes „Erlkönig“, einer gegenüber der dänischen Vorlage weitgehend neu gedichteten Ballade – stehen Texte, die gerade erst entstanden waren, wie das immer wieder vertonte „Abendlied“ von Matthias Claudius, mit dem Herder auch seine Vorliebe zu den Büchern des Alten Testaments teilte.
„Kein Buch des Alten Testaments ist gemisshandelter worden als das so genannte Hohelied Salomons. Man weiß, bei seinem klarem Wortverstande, nicht, was man daraus zu machen habe, hat Allegorie, Mystik, zuletzt Zoten und Liebesränke darüber geschüttet – und das alles aus lauter lieber Heiligkeit – es steht ja in der Bibel!“ So umriss Johann Gottfried Herder das Unverständnis, auf welches das Lied der Lieder weithin stieß, das er 1778 in neuer Übertragung herausbrachte. Seiner Edition fügte er eine von Regine Otto in „Lieder der Liebe“erfreulicherweise ebenfalls abgedruckte kleine Geschichte der Übersetzungen dieses biblischen Buches an, in der er auch eine Reihe von mittelhochdeutschen Übersetzungen aus „alten Minneliedern“ mitteilte, die mit dem Text, der damals nur aus der lateinischen Vulgata bekannt war, viel unbefangener umgegangen sind als die allegorischen Auslegungen der Theologen. / Hans-Albrecht Koch, Die Welt 20.12.03
Johann Gottfried Herder: Lasst in die Herzen sie dringen. Volkslieder. Insel, Frankfurt/M. 121 S., 12,80 EUR. Lieder der Liebe. Manesse, Zürich. 174 S., 12,90 EUR.
Vgl. auch Bernhard Rothen, NZZ 20.12.03, über die neudeutsche Bibel.
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