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Lyrikertreffen Münster Ausgangspunkt des poetischen Prozesses ist sehr häufig das panische Gefühl, keine Wörter mehr zu haben, ohnmächtig dem «Unsagbaren» ausgeliefert zu sein. Erst allmählich löst sich diese Stummheit, tastet sich der Dichter vor zu einem Versuch des Sprechens, der die Automatismen der «geläufigen Sprache» (Gerhard Falkner) ausser Kraft setzt. Das Lyrikertreffen in Münster ist seit 1979 der Ort, an dem diese Versuche der Entautomatisierung des Sprechens, der kühnen Neuordnung der Sprachmaterie systematisch in Szene gesetzt werden. Und auch diesmal waren deutschsprachige Lyriker eingeladen, deren Schreibweisen sich den Stimmungs-Idyllen und Bekenntnis-Naivitäten selbstverliebter Ich-Sager schroff verweigern.
Da waren die ins Monströse wuchernden Gedichte des Frankfurter Dichters Paulus Böhmer, die sich wie ein Mahlstrom vorwärts wälzen und alles an ihrem Bewusstseinsweg Liegende assoziativ ins Gedicht inkorporieren: Mythologie, Wissenschafts-Hybris, Blasphemie, Traumgerümpel, Mystik. Auf die Bedrängnis durch das «Unsagbare» antwortet dieser Autor mit einer «polymorph-perversen» (O-Ton Böhmer) Mitteilungswut, die sich als endlos-wütender Weltgesang ausfabuliert. Als ein strenger Meister des langen, zyklisch gebundenen Poems erwies sich auch der in München lebende Uwe Tellkamp, der in seinem Projekt «Der Nautilus» an das romantische Motiv der unendlichen Fahrt und Lebensreise anknüpft und dabei auch viele Splitter des uns umkreisenden Nachrichten- und Datenmülls in seine Geschichtsbeschwörungen einfügt.
Einen ganz anderen Weg hat Ulf Stolterfoht gewählt: Seine subtile ironische Satz-Kombinatorik löst das syntaktische und semantische Fundament unserer Alltags- und Fachsprachen von innen her auf, findet zu jeder Definition und Behauptung eine ins Groteske zielende Gegen-Definition, die sich mit Vorliebe selbst ad absurdum führt. Hier ist nicht das «Unsagbare» der Widerpart des Dichters, sondern «das so genannte Sägliche», das uns alltäglich in Satz-Schablonen Eingehämmerte. Durch die in Reimen organisierte Verschiebung und Umformung des Zitat-Materials entsteht hier eine gewisse Komik, die zu dem Missverständnis einlädt, Stolterfoht als einen lustigen Nonsens-Dichter zu identifizieren. / Michael Braun, BaZ 23.5.03
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