Demokratie und Islam

Diese naive und vage Vorstellung von Modernität ist der grösste Bremsklotz bei der Erneuerung der arabisch-islamischen Gesellschaften. Als im vorigen Jahrhundert der liberale ägyptische Gelehrte Rifa al-Tahtawi Paris besuchte, schrieb er einen Satz, der berühmt werden sollte: «In Frankreich sah ich einen Islam ohne Muslime, und in Ägypten sah ich Muslime ohne Islam.» Doch um diesen französischen Islam (gemeint waren der Fortschritt und die moderne Lebensweise) zu erreichen, muss zunächst der Islam von den Fesseln der nomadischen Stammeskultur befreit und der Koran als Glaubensbuch einer Weltreligion betrachtet werden, aber nicht etwa als allumfassende Lehre der Philosophie, der Naturwissenschaften, der Politik.

Die falsche Frage, die allenthalben zu hören ist, lautet: «Wollt ihr den Islam oder die Demokratie?» Doch die Antwort kann nicht etwa lauten: Wir wollen den Islam, wenn auch ohne die Demokratie – oder die Demokratie, wenn auch ohne den Islam. Denn einerseits verkörpert der Islam, im kulturellen und nicht nur im religiösen Sinne, die Identität der arabischen und islamischen Völker; anderseits aber leben diese Völker zugleich in einer Zeit, in der die Demokratie, als einzig mögliche Form eines freiheitlichen politischen Systems, den Islam von seinen geschichtlichen Fesseln befreien könnte.

/ Fadhil al-Azzawi, NZZ 16.4.03

Der irakische Dichter Fadhil al-Azzawi, 1940 in Kirkuk geboren, lebt seit 1983 als freier Schriftsteller in Berlin. Aufgrund seiner kulturellen und politischen Aktivitäten wurde er im Irak mehrmals verhaftet und zu drei Jahren Gefängnis verurteilt. Er wirkte als Herausgeber, Redaktionsleiter und Kulturredaktor bei arabischen Zeitungen und Zeitschriften und hat über zwanzig Gedichtbände, Romane und literaturkritische Werke veröffentlicht. Auf Deutsch liegt der Gedichtband «Auf einem magischen Fest» vor.

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