Sanfter Spürhund

Die schneidende Stimme des Kritikers von einst klingt plötzlich erstaunlich sanft und mild. Sein Sarkasmus, der zuweilen schon zynisch klang, hört sich hier eher melancholisch an. Die Ironie scheint noch spielerischer. Nichts ist ernst gemeint, aber alles wird ernst genommen. Wieder einmal: ein Zeichen der Zeit. Enzensberger wusste eben immer schon, wo es lang geht*). Und er weiß es immer noch. Seine Gedichte haben ihren diagnostischen Charakter behalten. Ihnen ist die deutsche Geschichte nach dem Zweiten Weltkrieg – als Erfahrung – eingeschrieben. Wie ein Spürhund nahm der Dichter die Witterung auf, stets die Nase im Wind, manchmal, schien es, auch sein Fähnlein. Doch Enzensberger wäre nicht Enzensberger, hätte er nicht immer genauestens kalkuliert. Er vertraute zwar oft seiner Intuition, doch er verließ sich nie auf sie. Mit analytischem Verstand, mit logischer Stringenz und seinem seismographischen Gespür für sich andeutende Entwicklungen las er an den sinnlichen Erscheinungen die soziale Bedeutung ab. / Martin Lüdke, FR 12.4.03

Hans Magnus Enzensberger: Die Geschichte der Wolken. 99 Meditationen. Suhrkamp Verlag, Frankfurt am Main, 2003, 146 Seiten, 19,90 €.

*)Bei seiner jüngsten Attacke gegen die Kriegsgegner weiß er dann genau, wo´s lang gegangen ist. Kein Thema hier!

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