Poesie am Schaufenster

In der NZZ (7.12.02) schreibt Monika Carbe über die Literatur der Türkei:

«Andere entsteigen den Büchern eines Nachts, / Bedecken das Weltall, andere./ . . . Ihre Stirn ohne Zeichen. / Neue Bücher schreiben sie, andere.» Diese Zeilen des ältesten lebenden Dichters der Türkei, Fazil Hüsnü Daglarca*, hat Joachim Sartorius in der Übersetzung von Gisela Kraft in den «Atlas der neuen Poesie» aufgenommen. Daglarca, 1914 geboren, also nur zwölf Jahre jünger als Hikmet, war von Anfang an dagegen gefeit, allzu direkt in die Fussstapfen des Älteren zu treten, da er früh seinen eigenen, unverwechselbaren Stil entwickelte. Die Bildersprache und die Metaphern der Divan-Dichtung waren ihm vertraut, aber wie Hikmet wandte er sich früh vom silbenzählenden Versmass des Osmanischen ab und schrieb in freien Versen, auch er mit sozialkritischem Anspruch. Jahrelang, von 1960 an, klebte er als Verleger und Buchhändler Woche um Woche jeden Donnerstag ein neues Gedicht an die Schaufensterscheibe seines Ladens, mit dem Erfolg, dass seine Poesie gelesen – und diskutiert wurde. … …

[von den Jüngere sei nur) Cevat Capan** genannt, 1933 geboren, Professor der Literaturwissenschaft – und weder akademisch vertrocknet noch epigonal. Gewiss fehlt ihm das Zeichen auf der Stirn – denn Schicksalsglauben ist seine Sache nicht. Sein Gedicht «Yazt» (Epitaph) lautet:

Ein Mann, der die Inseln liebte, Inseln wie Frauen. Ein Mann aus den Bergen, vom Land, der in Kneipen sass. Ein Bauer in der Residenz des Osmanischen Reichs, in algerischen Ketten, Reisender aus Marseille. Ein Mann, der sich auflehnte gegen Abdülhamit II. und nach Havanna ging – mein Vater.

*) Der dumme Browser kann nicht lesen. Richtig: Fazıl Hüsnü Dağlarca

**) Cevat Çapan

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