Litauen als terra incognita,

das war schon immer so, aber gerade dieses Andere zog auch die Träume, Wünsche und Sehnsüchte vieler Intellektueller an. Zwischen endlosen Wäldern und sanften Hügel, zwischen Seen und Sümpfen, da, wo eben noch Feen, Nixen und Zwerge gehaust hatten, schien der Ursprung zum Greifen nah. Je sichtbarer der Fortschritt um sich griff, desto mehr wurde dieser Mythos zur Utopie: Goethe und Herder verehrten die Lieder der litauischen Fischer und Bauern, Thomas Mann suchte und fand in den Dünen von Nida das «Erlebnis des Elementaren», Johannes Bobrowski betrieb in seinen Gedichten und Romanen die Suche nach der verlorenen Zeit der litauischen Kindheit, wie es polnischerseits Czeslaw Milosz («Das Tal der Issa») und Tadeusz Konwicki («Das Loch im Himmel») taten. Polens romantische Dichter kultivierten die litauische Saga besonders enthusiastisch, und ausgerechnet der polnische Nationaldichter Adam Mickiewicz sollte der grösste Sänger Litauens werden – wobei mit «Litauen» freilich das hoch patriotische Phantasma eines dem Kronland Polen überlegenen litauisch-polnischen Grossreiches gemeint war. / Andreas Breitenstein, NZZ 5.10.02

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