Texttreue bei Nachdichtungen

Michael Braun befragt Raoul Schrott – u.a. über Texttreue bei Nachdichtungen:

Den griechischen Hexameter, der etwas Getragenes hat, kann ich nicht aus den Strukturen des Altgriechischen umstandslos ins Deutsche hinüberretten. Die Musikalität der einen Sprache kann ich nicht in die andere bringen, ohne sie in ein Prokrustesbett zu zwängen. Eine Eins-zu-Eins-Übersetzung wäre nichts als eine Travestie, die das Fremde an rein äusserlichen Dingen festmacht. Die griechische Metrik hatte z.B. nicht betonte und unbetonte Silben wie im Deutschen, sondern deren Sprachmelodie basierte auf langen und kurzen Silben und auf Tonhöhen. Oder nehmen wir das Okzitanische, die Sprache der Troubadours. Die hatte ein ungewöhnlich ausgewogenes Verhältnis zwischen Vokalen und Konsonanten. Das Deutsche dagegen hat viel zu viele Konsonanten und zu wenige Vokale.
Wenn man das mit den Möglichkeiten eines Musikinstruments beschreiben will, so könnte man sagen: Auf einer Orgel gibt es diese Bandbreite, das Deutsche ist aber ein Klavier dagegen. Also versuche ich, ein Stück Musik transponierbar zu machen für ein anderes Instrument. Und das ist die Aufgabe des Übersetzers. Das ist letztlich auch eine Art von Hermeneutik: Den Text aus seinem sprachlichen Kontext heraus zu verstehen, den Text als Sprachgestus und Sprechakt zu begreifen und die Suggestivität dieses Sprechakts im Deutschen neu zu erschaffen. / Basler Zeitung 16.4.02

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