wenig beneidenswert das schicksal eines buchs

Volha Hapeyeva

(belarussisch Вольга Гапеева, deutsch ‚Wolha Hapejewa‘, englisch Volha Hapeyeva; * 1982 in Minsk) 

monolog eines buchs

du steckst mich hinten in den schrank
zwischen andere gut genutzte bücher
damit ich meinen wahren platz erkenn
mich nicht aufführe wie
eine prinzessin
ich öffne die augen und seh
es wird eng für mich
im schrank hinterste ecke
zwischen anderen dickleibigen büchern
ich warte auf die berührung deiner finger
weil der leser eine art gott ist
er entscheidet mit wem er die nacht verbringt
wenn du von geburt her das glück hast schön zu sein
könntest du ein liebling werden
oder sogar das hausbuch
wenn nicht – stehst du nur da und staubst ein
wenig beneidenswert das schicksal eines buchs
du wirst gewählt gekauft dann ausgetauscht
teil einer sammlung
schon in ordnung du bist nur ein ding
wie jedes gute ding hast du zu dienen
zur unterhaltung bildung erziehung
oder dazu köstliche mahlzeiten zuzubereiten
andernfalls
kommst du ins altpapier
oder gott bewahre wird der ofen mit dir geheizt
oder man wird dich in bibliotheken geben
und du wirst ein öffentliches buch
ohne zuhaus
das man für einige zeit für geld entleiht
dann zurückgibt oder verliert
auf öffentlichen plätzen
so gefährlich ist das schicksal eines buchs
schon in ordnung weil du nur ein ding bist
weil du bloß wort bist
mit dem falschen grammatischen geschlecht

Aus: Volha Hapeyeva: Mutantengarten. Gedichte. Übersetzt aus dem Belarussischen von Matthias Göritz, Martina Jakobson und Uljana Wolf Mit einem Nachwort von Matthias Göritz. Mit Federzeichnungen von Christian Thanhäuser. Edition Thanhäuser & Internationales Haus der Autorinnen und Autoren Graz, 2020, S. 31f

Gegen-Gestirn

Beim Suchen nach einem Gedicht für heute stieß ich auf ein altes Heft der legendären Zeitschrift „Zwischen den Zeilen“, Untertitel „Eine Zeitschrift für Gedichte und ihre Poetik, herausgegeben von Urs Engeler“. 2004 erschien Nummer 23, gewidmet diversen Spielarten experimentellen Übersetzens, im Inhaltsverzeichnis liest man Begriffe wie Unübersetzbarkeit der Metapher (Frey), Gedicht für Übersetzer-Studentn (Kling), schlampige Schätzungen (Hammerschmid), Nachbild (Ledebur), Gegen-Gestirne (Rinck), Ikten (Schestag), Paume (Jackson), Inner- und Zwischensprachliches Übersetzen (Ingold), Umdichten (Prammer). Deutschsprachige Autoren widmen sich auf diversen Wegen italienischen und französischen Dichtern. Monika Rinck befasst sich mit dem französischen Dichter Jules Laforgue (1860 in Montevideo als Sohn französischer Eltern geboren, genau heute vor 164 Jahren). Genauer mit einem Gedicht Laforgues, dem sie in sehr jungen Jahren bei Julio Cortázar begegnet war, ein Sternbild des Nichtwissens entstand daraus, und eine zwischen die Zeilen geschriebene Übersetzung „in sehr junger Schrift“. Rinck teilt nicht ihren damaligen Versuch mit, sondern sie reagiert / paraphrasiert / reflektiert / hält dagegen aus der Differenz von 20 Jahren. Ich gebe den Originaltext von Laforgue und eins von Rincks Echos. Wer mehr will, frage in der Bibliothek seines Vertrauens: Was, ihr habt diese wichtige Zeitschrift nicht?!

Jules Laforgue

Encore à cet astre


Espèce de soleil ! tu songes : – Voyez-les,
Ces pantins morphinés, buveurs de lait d'anêsse
Et de café ; sans trêve, en vain, je leur caresse
L'échine de mes feux, ils vont étiolés ! –

– Eh! c'est toi, qui n'as plus que des rayons gelés !
Nous, nous mais nous crevons de santé, de jeunesse !
C'est vrai, la Terre n'est qu'une vaste kermesse,
Nos hourrahs de gaîté courbent au loin les blés.

Toi seul, claques des dents, car tes taches accrues
Te mangent, ô Soleil, ainsi que des verrues
Un vaste citron d'or, et bientôt, blond moqueur,

Après tant de couchants dans la pourpre et la gloire,
Tu seras en risée aux étoiles sans cœur,
Astre jaune et grêlé, flamboyante écumoire !
Monika Rinck

denk dir, espèce de soleil

etwas nicht können, ganz vorsichtig gleiten die kuppen
darüber, listen, linien, wie wispernd: es nicht können,
wispert ihr echo noch: wieder nicht, denk dir, lentement,
denk dir, das erste als erstes, denke, du ließest mich denn,
stille driftend, ungesegnet, dahin, wo die sichel sich senkt,
la lune grêle, unmerklich bewegt, in der geste zur erde
wispert struktur: es wieder nicht können. linde, sedierte,
linierte köpfchen, die gerundeten spitzen, diese, deine.
netze denke, leichthin gewebtes, lockere versehrliche fäden.
und löst sich die zum triftigen knäuel gewickelte gegend,
entrollen sich schnüre, der lauf des verbliebenen garns,
weist hinab, entlang dieses weges, im märchen, ins tälchen.

Aus: Zwischen den Zeilen #23. Mouvante Limite / Gehende Grenzen. Hrsg. Theresia Prammer. Oktober 2004, S. 237 / 239

Du wusstest es nicht

Kay Hoff 

(* 15. August 1924, heute vor 100 Jahren, in Neustadt in Holstein als Adolf Max Hoff; † 26. März 2018 in Berlin)

Eisenbahnausfahrt

Lavafarbene Fenster,
gelassen, erstarrte
Höfe, aufgeschnitten,
vorbei: du wußtest
es nicht. Gelassen:
die Drähte foltern
den Himmel, Gitter
wie gestern, vorüber,
Baumpinsel, Abschied,
vorbei. Du wußtest
es nicht. Die Zeitung
schweigt. Du wußtest
es nicht. Abschied,
das Tuch weht zurück,
die Taube Erinnerung,
Ruß in den Augen,
die kleine Taube,
zurück. Du wußtest
es nicht.

Aus: Panorama moderner Lyrik deutschsprechender Länder. Von der Jahrhundertwende bis zur jüngsten Gegenwart. Herausgegeben von Wolfgang Hädecke und Ulf Miehe. Gütersloh: Mohn, o.J. (1965), S. 420f

Babyn Jar

Marianna Kijanowska ist die erste Gegenwartsautorin in der Ukraine, die sich des Themas Babyn Jar umfassend angenommen hat. Fast siebzig Jahre danach hat sie den Opfern ein Denkmal in Stimmen errichtet, das ihnen ihren Namen, ihre Identität und ihre Würde zurückgibt.

Nachwort der Übersetzerin Claudia Dathe, aus: Marianna Kijanowska: Babyn Jar. Stimmen. Gedichte ukrainisch / deutsch. Berlin: Suhrkamp, 2024, S. 153

Das Massaker von Babyn Jar geschah im gleichnamigen tief eingeschnittenen Tal Babyn Jar (ukrainisch Бабин Яр) oder Babi Jar (russisch Бабий Яр) auf dem Gebiet der ukrainischen Hauptstadt Kiew, als Einsatzgruppen der deutschen Sicherheitspolizei und des SD am 29. und 30. September 1941 innerhalb von 48 Stunden mehr als 33.000 jüdische Männer, Frauen und Kinder ermordeten. Dies war das größte einzelne Massaker an Juden im Zweiten Weltkrieg, an dem das Heer der Wehrmacht nicht nur mitverantwortlich war, sondern die Aktion direkt forcierte. (…)

Mitte der 1960er Jahre wurde der jüdische Friedhof, der während des Massakers als Sammelpunkt gedient hatte, eingeebnet, um dort einen Fernsehturm zu errichten. Ab 1966 begannen aber auch geduldete Gedenkmärsche mit tausenden Teilnehmern. Schließlich wurde 1976 ein Denkmal eingeweiht, das aber nicht darauf einging, dass die Getöteten vor allem Juden waren. https://de.wikipedia.org/wiki/Massaker_von_Babyn_Jar

Marianna Kijanowska

Aus: Babyn Jar. Stimmen

***

keiner sei ewig lehrte der rabbi und schweigt jetzt
die kugel hat ihn getroffen und alles ist vorbei
doch der talmud klingt mir noch nach im ohr
mischna bibel gemara mitten im gelärm der
motoren am rand ein paar kleinlaster
die menschen befördern und leichen wie vieh
keiner sei ewig lehrte der rabbi und ist jetzt verstummt
damit wir beten in der stille nehme ich an

Deutsch von Claudia Dathe, aus: Marianna Kijanowska: Babyn Jar. Stimmen. Gedichte ukrainisch / deutsch. Berlin: Suhrkamp, 2024, S. 79

***

ребе вчив що ніхто не вічний тепер мовчить
кулеметна куля його впіймала і все минуло
а у вухах мені усе ще талмуд звучить
мішна біблія гмара помежи гулом
двигунів на узбіччі кілька фургонів з тих
що людей перевозять й трупи на кшталт худоби
ребе вчив що ніхто не вічний тепер затих
щоби ми помолились в тиші напевно щоби

Ebd. S. 78

Im engen Kreis der Schmäle

Wassily Kandinsky 

(Василий Васильевич Кандинский, * 4. Dezemberjul. / 16. Dezember 1866greg. in Moskau; † 13. Dezember 1944 in Neuilly-sur-Seine, Frankreich) 

Lied

Es sitzt ein Mann
Im engen Kreis,
Im engen Kreis
Der Schmäle.
Er ist vergnügt.
Er hat kein Ohr.
Und fehlen ihm die Augen.
Des roten Schalls
Des Sonnenballs
Er findet keine Spuren.
Was ist gestürzt,
Das steht doch auf.
Und was nicht sprach,
Das singt ein Lied.
Es wird der Mann,
Der hat kein Ohr,
Dem fehlen auch die Augen
Des roten Schalls
Des Sonnenballs
Empfinden feine Spuren.

Aus: Versensporn 57. Wassily Kandinsky. Jena: Edition Poesie schmeckt gut, 2024, S. 23

wir wollen fortfahren mit dem Schieß

Tom Schulz

Tantiemen, Jemen

wir waren zwei reizende Nierentischchen
denen die Fische und ihre Frau gern mal den Heil
Butt hervortanzten, aus dem Stehgreif den Steg
mit den Elektroanglern, adé

ihr honoren Gassenhauer, ihr Hasen
Schartenorchester, ihr empfindlichen
Tendenzen in ernstgemütlicher Lage
"Wie gehts sich denn so in Trom,-"
böser Onkel, Papa Schlumpf

mein Flachbett, mein Lachszug
mein Fingerzeig, mein Kieselstein
Zertrümmerer auf dem Verdichter
Plattenlabel, zeichnen sie hart

wir schließen erholt
herzlich, mit Herz und Hund
(führend in der Holzbockbekämpfung
seit fünf Generationen)

als Stubenküken musste ich immer
die Federn lesen, die Küchenschaben
Jungen stimmten das Deutsche Eck an
(eine blühende Darmflora und Fauna
mit Karzern, Kasernen und Kaffeekantaten)

wir wollen in gut getönten Gucchi
Brillen die Sonnenuntergänge schwarz einrahmen, Günter
und mit der guten Rama allen den Unfug
aufs Brot schmieren (schreiben), adé
ihr aspirintrunkenen Aspiranten des non liqueten

wir wollen fortfahren mit dem Schieß
Budengeld, mit dem Satz vom Schund

Aus: Tom Schulz: Hundert Jahre Rütli. Berlin: SuKuLTuR, 2007, S. 17f (Schöner Lesen 67)

SAID

Drei Gedichte des deutsch-iranischen Schriftstellers SAID, der 2021 in München starb.

Eingefrorene Lügen

Ich rufe deinen Namen.
Du rufst zurück.
Und wir mißverstehen uns.
Das Telephon ruft.
Ich renne hin
schiebe mich zur Seite
und nehme den Hörer
und
wir spielen Räuber und Gendarm.
Du legst auf.
Ich verliere Dich.
Empfang

Paßkontrolle.
Ein Zeigefinger
sucht in einem Buch mit vielen Namen.
Ein Zeigefinger erinnert mich an andere Orte.
Das Dröhnen eines Stempels behauptet:
Ich bin kein Fremder mehr.

Aus: Hier ist Iran! Persische Lyrik im deutschsprachigen Raum. Hrsg. Gerrit Wustmann. Bremen: Sujet Verlag, 2001, S. 178, 179, 181

SAID (persisch سعید [sæˈiːd]; * 27. Mai 1947 in Teheran; † 15. Mai 2021 in München; bürgerlich Said Mirhadi, Künstlername in Großbuchstaben) war ein iranisch-deutscher Schriftsteller.

1965 kam SAID als Siebzehnjähriger zum Studieren in die Bundesrepublik Deutschland. In München studierte er Politikwissenschaft. 1979, nachdem die Monarchie im Iran gestürzt wurde und die Islamische Republik sich allmählich etablierte, kehrte SAID kurzzeitig in den Iran zurück. Die dort durch die Mullahs neu begründete Theokratie aber veranlasste ihn, in der Bundesrepublik Exil zu suchen. Im Jahre 2004 erhielt SAID die deutsche Staatsangehörigkeit. https://de.wikipedia.org/wiki/Said_(Schriftsteller)

Niemand schafft es, sie jemals zu sehen

Washington Cucurto 

(alias Santiago Vega, * 1973 in Quilmes)

Höflichkeitsvisite

Die Allerschönste der Prinzessinnen
geht jede Nacht durch mein Fenster
ein und aus.

Niemand schafft es jemals sie zu sehen.

Nicht einmal meine Frau, die neben
mir schläft.

Die Allerschönste der Prinzessinnen
setzt sich aufs Bett
und lehnt ihre Wange an meine.

Niemand schafft es jemals sie zu sehen.

Nicht einmal ich, der ich neben
ihr schlafe.

Aus: Washington Cucurto, Die Maschine, die kleine Paraguayerinnen macht. Herausgegeben, aus dem argentinischen Spanisch übertragen und mit einem Glossar versehen von Timo Berger. SuKuLTuR 2004, S. 13

Fühllos auf Fühllosem

Klavki

(geboren als Oliver Eufinger am 4. Oktober 1972, gestorben ebenda am 4. April 2009)

„Kunst ist ein Irrtum!“
Heiner Müller


Scherben

Herzstück. Glücksgott. Froschkönig ...
JEDER STEIN hat Atem zu schreien.
Also grab deinen Speichel zurück in deine faulenden Zähne.
Eiter dringt schon aus deiner Wunde, deinem Maul, stinkend,
gesalbt mit Galle, kotmäulig.
Schluck deinen Hass, kaue ihn lange in den Winkeln deines Körpers.
Spuck aus dein Mitgefühl.
Mäste dich mit deinem Grab Auflehnung.
Reiß die Brüste von deiner Mutter – Klumpen, mit schwarzem
Blut, das du einst gierig gesoffen hast.
Oder willst du geduldig warten auf unser vergehendes Fleisch,
auf unseren vieljährigen Tod? Unser Vorsprung in den Staub ist
nur knapp.
Nur drei Wörter länger ist dein Leben.
Setz deinen Fuß auf unseren Nacken.
Wonne des zu Recht Getretenen.
Noch ein Fußtritt – und jeder Faustschlag ist Berührung.
Fühllos auf Fühllosem.
Lass sie wachsen: deine Gleichgültigkeit – gegen uns.
Gegen Das da.
Fühllos ...

Aus: Klavki, Delirium. Lyrik. 2. Auflage, 2012

Wie gut es mir gefällt

Passend zum Gedicht auf die irische Sprache von Ciara Ní É (hier vorgestern) heute eins auf die katalanische.

Màrius Sampere

(Màrius Sampere i Passarell, * 28. Dezember 1928 in Barcelona, † 26. Mai 2018 ebd.)


Wie gut es mir gefällt

Wie gut es mir gefällt, in einer Sprache zu schreiben,
von der es heißt, sie sterbe aus.
Welch Gefühl von Frieden und Erleichterung,
sie abwärts zu den Quellen zu tragen,
zur Schattenseite, zwischen die Beine, zur heiligen Frau
des ersten Lichtscheins.

Das Geschlecht öffnete sich, und ich öffnete die Augen
und las an den blutenden Wänden
dies: Ich werde sprechen!
Und nun sage ich, da ich alles weiß
über die Liebe und die Räuber:
Je tiefer der Tod, desto verwurzelter in der Erde!

Aus dem Katalanischen von Àxel Sanjosé.

Com m’agrada

Com m’agrada escriure en una llengua
que diuen que es mor.
Quina sensació de pau i alleujament
portar-la de baixada cap als aiguaneixos,
l’obaga, l’entrecuix, la santa dona
de les primeres clarors.

S’obria el sexe i jo obria els ulls
i vaig llegir, per les parets sagnants,
això: parlaré!
I ara dic, ara que ho sé tot
de l’amor i dels lladres,
com més fonda la mort, més endins de la terra!

Bei Lyrikline kann man das Gedicht vom Autor gesprochen hören und weitere Übersetzungen (ins Englische und Spanische) sowie weitere Gedichte lesen.

Da ich weiß, dass man küsst

Joan Salvat-Papasseit

(* 16. Mai 1894 in Barcelona, Spanien; † 7. August 1924, heute vor 100 Jahren, ebenda)

Aus dem Katalanischen von Thomas Fritz, aus: Ein Spiel von Spiegeln. Katalanische Lyrik des 20. Jahrhunderts. Mit 7 Farbzeichnungen und 3 Collagen von Antoni Tàpies. Katalanisch und deutsch. Leipzig: Reclam, 1987, S. 54f

Diese tote Sprache

Ciara Ní É

Da ich Irisch tagtäglich spreche, geht mir immer ziemlich gegen den Strich, wenn jemand es als tote Sprache bezeichnet. Meine gelebte Erfahrung könnte nicht weiter entfernt davon sein, denn ich hatte das Vergnügen, mich in eine ebenfalls Irisch sprechende Person zu verlieben. Minorisierte Sprachen werden seltener für Werbung, Filme, Pornografie usw. verwendet, dabei haben wir as Gaeilge, auf Irisch, mehr Freiheit, unsere eigenen Welten mit unseren eigenen Worten zu erschaffen.

Diese tote Sprache

Ich höre sie behaupten, meine Sprache sei tot
Doch das ist mir egal
Die begreifen den eigenen Mangel nicht mal,
sind blind für solche quicklebendigen Momente

Da ist sie
während ich in meinem Wortschatz wühle
aus tiefstem Herzen einer
passenden Definition nachspüre
für unsere ... Verbindung? Verwringung? Verschlingung?

Da ist sie
in weiter Ferne unter Sternen
während du Bezauberndes ins Handy raunst
das wundersam die Luft durchquert
und mir ins Ohr geflüstert wird

Da ist sie
als vorgebrachte Bitte
während ich auf Knien vor dir sitze
in einem schicken Hotel in der Stadt

Da ist sie
diese tote Sprache
strömt aus deinem Mund, solange du in meinem bist

Da ist sie
diese Sprache, die streichelt
diese Sprache, die schmeichelt und lustvoll berührt

Da ist sie, da
und da schon wieder –
Im Vokativ
Ich rufe deinen Namen
Deinen Namen
Deinen Namen

Aus dem Englischen von Anna-Nina Kroll. Aus: Sprache im technischen Zeitalter 250, Juni 2024, S. 195f.

Dieses Gedicht hat die zweisprachige irische Autorin und Performancekünstlerin ursprünglich auf Irisch geschrieben und für die Übersetzung ins Englische übersetzt.

Denn Furcht

Rudolf Hagelstange 

(* 14. Januar 1912 in Nordhausen; † 5. August 1984, heute vor 40 Jahren, in Hanau)

DENN Furcht beherrscht seit langem eure Tage, 
Furcht vor der Wahrheit. Eure Züge
sind fahl von Heuchelei und Lüge.
So wie das Zünglein an der Waage

den Gleichstand liebt, so sucht ihr zu verbergen,
was euch bewegt. Ihr braucht die Nächte,
um wieder ihr zu sein: Verächter, Knechte,
Liebhaber, Günstlinge, Verschwörer, Schergen.

Ihr habt die Scham verraten, um in ihrem Kleide
das Licht zu täuschen, das die Wahrheit liebt,
auf daß es gleichfalls eure Wege meide.


Ihr habt verwirkt, einander Recht zu sprechen.

Ihr ludet schreckliches Verbrechen
auf euch. Ihr habt den Quell getrübt.

Aus: Rudolf Hagelstange: Venezianisches Credo. Leipzig: Insel, 1946 (11.-20. Tsd.), S. 15

Krzysztof Kamil Baczyński (1921-1944)

Krzysztof Kamil Baczyński 

([ˈkʂɨʂtɔf ˈkamil baˈt͡ʂɨɲskʲi]; * 22. Januar 1921 in Warschau; † 4. August 1944, heute vor 80 Jahren –  als Teilnehmer des Warschauer Aufstands von einem deutschen Soldaten erschossen, 23 Jahre alt)

Hans Magnus Enzensberger nahm drei seiner Gedichte in sein „Museum der modernen Poesie“ auf. Hier eins davon.

Elegie auf einen polnischen Jungen

Sie trennten dich, mein Sohn, von Träumen, die wie Falter zittern,
sie malten dir ein Landschaftsbild aus Bränden und Gewittern,
sie strickten feuchte Augen dir, mein Sohn, die rot verbluten,
und mit Gehängten säumten sie den Fluß der grünen Fluten.

Sie prägten dir die Heimat ein, mein Sohn, mit toten Schritten,
das Eisen deiner Tränen hat den Weg herausgeschnitten.
Sie zogen dich im Dunkel groß mit Angst, die alle aßen,
und du gingst blind die schamhafteste aller Menschenstraßen.

Du gingst, mein heller Sohn, die schwarze Waffe in den Händen,
erlebtest in dem Schrei der Zeit, das Böse sich vollenden.
Und deine Hand bekreuzte noch die Welt, bevor sie sank.
War es die Kugel, wars das Herz, mein Sohn, was da zersprang?

Aus dem Polnischen von Karl Dedecius, aus: Museum der modernen Poesie, eingerichtet von Hans Magnus Enzensberger. 2. Band. Frankfurt/Main: Suhrkamp, 1980, S. 291. (Die Originalausgabe des Museums erschien 1960. In der zweibändigen Ausgabe sind alle Texte auf Deutsch und in der Originalsprache abgedruckt.)

Elegia o chłopcu polskim

Oddzielili cię, syneczku, od snów, co jak motyl drżą
haftowali ci, syneczku, smutne oczy rudą krwią,
malowali krajobrazy w żólte ściegi pożóg,
wyszywali wisielcami drzew płynące morze.

Wyuczyli cię, syneczku, ziemi twej na pamięć,
gdyś jej ścieżki powycinał żelaznymi łzami.
Odchowali cię w ciemności, odkarmili bochnem trwóg,
premierzyłeś po omacku najwstydliwsze z ludzkich dróg.

I wyszedłeś, jasny synku, z czarną bronią w noc,
i poczułeś, jak się jeży w dźwięku minut – zło.
Zanim padłeś, jeszcze ziemie przeżegnaleś ręką.
Czy to byla kula, synku, czy to serce pękło?

Ebd. S. 290

Joseph Conrad

Zum 100. Todestag des polnisch-ukrainisch-englischen Schriftstellers Joseph Conrad (eigentlich Józef Teodor Nałęcz Konrad Korzeniowski, * 3. Dezember 1857 in Berdytschiw, Russisches Kaiserreich, heute Ukraine; † 3. August 1924 in Bishopsbourne, Großbritannien) ein Gedicht des deutsch-polnisch-litauischen Schriftstellers Johannes Bobrowski.

Joseph Conrad

Linien,
über der Kimmung,
leicht, falbes Gebirg. Der Streifen
Weiß. Dort geht
zu Ende die Flut. Der Küste
Fiebergrün scheint herauf.

Und der Wind
fährt, ein Sprung in der Wölbung
aus Licht, bleiernem Licht. Das Schiff
aber ist da. Hier steh ich. Ich hab in den Lungen
die unaufhörliche Ferne.
Und sag deinen Namen,
mein Schiff.

Einmal, im hellen Abend,
wie der Habicht der Berge um Tschernigow,
blick ich hinaus, weißblühende
Städtchen, am Dnjestr gesungen,
hör ich, ich rufe den polnischen
Zimmermann. Dort,
sag ich, die Boote sind schwarz.
Das hab ich vergessen.

Himmel über uns, Ferne
bis unter die Segel, dunkelnd.
Und, inmitten, die brennende
Treue der Männer, gekommen
über die Meerflut.

Aus: Johannes Bobrowski, Die Gedichte (Gesammelte Werke Bd. 1). Berlin: Union, 1987, S. 42

Die erste Fassung dieses Gedichts ist vom 3.7.1956. Aus den Anmerkungen der Werkausgabe:

Joseph Conrad – Eigentlich Teodor Józef Konrad Korzeniowski (1857-1924), englischer Schriftsteller, der aus dem polnisch-ukrainischen Landadel stammte, geboren in Berditschew, Sohn eines Schriftstellers, der 1861 in Vorbereitung des polnischen Aufstandes von 1863 verhaftet und in das nordrussische Wologda verbannt wurde, wohin Frau und Kind ihm folgten. 1863 durfte die Familie nach Tschernigow übersiedeln. 1868 wurde die Verbannung aufgehoben. Nach dem frühen Tod der Eltern sorgte der Onkel Tadeusz Bobrowski, der Bruder der Mutter, für den Verwaisten. 1874 trat er in Marseille in die französische Marine ein. Ab 1878 im Dienst der englischen Marine, wurde er 1886 britischer Staatsangehöriger und Kapitän. 1894 schied er aus dem Seemannsdienst aus und lebte seitdem als Schriftsteller in der Nähe von London. Auf Conrads Onkel Tadeusz Bobrowski machte Ina Seidel in einem nicht erhaltenen Brief Johannes Bobrowski aufmerksam, der in der Antwort vom 15. August 1944 Conrad den Verfasser der geliebten Shadow-line nannte. Vgl. Bobrowskis frühe Bemerkung zu Conrad und die Interviewbemerkung von 1965 (IV 207 und 488). »Die Schattenlinie« (1916) erzählt in Ichform von Conrads erstem Schiffskommando, als er 1888 das englische Segelschiff »Otago«, dessen voriger Kapitän geisteskrank geworden und gestorben war, in Bangkok übernahm. Eine Flaute hielt das Schiff im Golf von Siam fest und brachte die Mannschaft an den Rand des Todes. Mit letzter Kraft wurde Singapore erreicht. Die Erzählung zeigt neben dem Glück und Stolz des Kapitäns die Tücke und Grausamkeit des Meeres, zum Ende immer mehr die Solidarität und den Heldenmut der todkranken Mannschaft. Von dieser Erzählung, die Bobrowski in einer deutschen Ausgabe von 1930 besaß, geht das Gedicht aus.

Der Küste / Fiebergrün – Die Ostküste des Golfs von Siam mit ihren Inseln, aus deren Nähe und fieberbegünstigender heißer Luft das Segelschiff infolge der Flaute wochenlang nicht wegkommt (»Die Schattenlinie«, Kapitel IV).

Einmal – Gemeint ist die Zukunft, erste Fassung: Einmal, im Alter.

Berge um Tschernigow – Erinnerung an Conrads fünf Kindheitsjahre in Tschernigow, das aber im Flachland liegt.

weißblühende / Städtchen, am Dnjestr gesungen – Nach der Aufhebung der Verbannung lebten Vater und Sohn Korzeniowski einige Zeit in Przemyšl und Topolnica. Der Dnjestr ist der Hauptstrom des östlichen Galizien. Die ukrainisch-ostgalizischen Landstädtchen bestanden aus kleinen weißgestrichenen Lehmhäusern, die besonders häufig von Kirschbäumen umgeben waren. Während Hitlers Polenfeldzug war Bobrowski im September 1939 vielleicht bis Przemyšl gekommen (Chronik 17).

ich rufe den polnischen / Zimmermann – In Conrads Leben und Werk kommt er nirgendwo vor. Vielleicht ist, in Anlehnung an Mickiewicz, an messianische Hoffnungen des polnischen Volkes zu denken (Jesus nach Mk 6, 3 »der Zimmermann«).

Aus: Johannes Bobrowski. Erläuterungen der Gedichte und Gedichte aus dem Nachlaß, von Eberhard Haufe. Stuttgart: Deutsche Verlags-Anstalt, 1998 (Gesammelte Werke Bd. 5), S. 52f