Leo Heller
(* 18. März 1876 in Wien; † 30. Januar 1941 in Prag)
Perlen und Säue
Die Säue grunzten dumpf und schwer:
Wir wollen keine Perlen mehr,
Seit man uns vorzuwerfen beginnt,
Perlen, die keine Perlen sind.
Wir haben uns dran den Magen verdorben,
Etwelche sind von uns gestorben.
Sich opfern noch für solche Mache?
Kritik ist nimmer unsre Sache!
Was gilt uns Schaffensdrang und -kraft,
Wir dienen nur der Landwirtschaft.
Die Dichter sollen es nie vergessen:
Sie mögen die Perlen selber fressen!
Aus: Poesiealbum 385. Leo Heller. Auswahl Wilfried Ihrig. Bilder von Walter Trier. Wilhelmshorst: Märkischer Verlag, 2024, S. 6
Oskar Manigk (* 29. April 1934 in Berlin) ist ein deutscher Maler. Er lebt und arbeitet in Ückeritz auf Usedom und in Berlin.
Krähen
Ein Schauer aus zerbrochnen Krähen
ergoss sich über Klein-Irene.
Stets sollte man eine Fontäne
da bauen, wo wir sie auch sehen!
Piff – Paff! Es stirbt das Amtsgericht
noch ehe es sich recht besinnt.
Und über Gustavs Schandgesicht
die Freudenträne rinnt.
Sie rinnt und rinnt die Straße lang
soweit die Straße reicht.
Und wer sie sieht, wird davon krank
und kriegt ein Kind vielleicht!
Wolln wir nicht alle miteinand
noch schnell in ein Lokal?
Dorthin, wo Ordnung und Verstand
uns neu gebor’n wird jedes Mal?
Zu spät! Es bricht der Arbeitsmann
zusammen samt dem Baugerüst.
Nun heißt es: Rette sich wer kann
und noch zu retten ist.
Aus: Oskar Manigk, Anwesend, 21 Gedichte und Grafiken. Berlin: Lutz Wohlrab, 2007
Marie T. Martin
(* 16. April 1982 in Freiburg im Breisgau; † 2. November 2021 ebenda)
Märchen
Blut, das austritt nach einem Schnitt,
dein Mantel, wenn du König spielst
obwohl du ein Mädchen bist, lenkst
du eine Expedition über den Äquator
Läuse quetschen bis sie Farbe geben,
wie der Löwenzahn Milch gibt, die du
nicht trinken darfst. Wer aus mir trinkt
wird ein Reh, wer aus mir trinkt wird
ein See, eine alte Spule in einem Schrank.
Zack Bumm, jede Explosion frisst Familien
bis sie Asche werden, um die Ecke ist ein
Haus abgebrannt. Grundmauern sichern
kein Kind, weißt du. Aber was kannst du
machen, dass Geschwister unverletzbar sind?
Aus: Marie T. Martin: Der Winter dauerte 24 Jahre. Werke und Nachlass. Hrsg. Hanna Lemke und Andreas Heidtmann. Illustrationen: Franziska Neubert. Nachwort: Norbert Hummelt. Leipzig: Poetenladen, 2024, S. 266
Heute vor 85 Jahren wurden Rudi Dutschke und Harald Gerlach geboren. Ob Dutschke auch Gedichte geschrieben hat, weiß ich nicht. Also hier ein Gedicht des in Schlesien geborenen Thüringer Dichters, der nur 61 wurde. Erinnerung an einen Aufbruch und eine Utopie, einen Traum, den manche träumten, das Aufwachen inbegriffen.
Harald Gerlach
(* 7. März 1940 in Bunzlau; † 19. Juni 2001 in Leimen)
UTOPIA
Um die Gipfel kreisen
die Adler. Und mein Traum wies
im Osten ein Feld: Republik
der Gelehrten. Dort, Diotima,
laß uns sein. Sinclair, mein
Präsident! Gehüllt in den Mantel
der Poesie schreitet
dein Hohepriester. Auf eilig
verhökertem Boden. Vorbei. Vorüber.
Nebel. Das Reich der Gedanken
bleibt landlos.
DRINK
COCA COLA LIGHT! So kam ich
unter die Deutschen. Handwerker
fand ich ... Allianzversichert.
Shake hands, Scardanelli.
Aus: Grenzfallgedichte Eine deutsche Anthologie. Herausgegeben von Anna Chiarloni und Helga Pankoke. Berlin und Weimar: Aufbau, 1991, S. 118
Zum großen Geburtstag des großen Michelangelo ein kleines fragmentarisches Spottgedicht auf eine Unbekannte in verschiedenen Fassungen.
Michelangelo Buonarroti
( * 6. März 1475 in Caprese, Toskana; † 18. Februar 1564 in Rom)
Tu ha’ ’l viso più dolce che la sapa,
e passato vi par sù la lumaca,
tanto ben lustra, e più bel c’una rapa;
e’ denti bianchi come pastinaca,
in modo tal che invaghiresti ’l papa;
e gli occhi del color dell’utriaca;
e’ cape’ bianchi e biondi più che porri:
ond’io morrò, se tu non mi soccorri.
La tua bellezza par molto più bella
che uomo che dipinto in chiesa sia:
la bocca tua mi par una scarsella
di fagiuo’ piena, si com’è la mia;
le ciglia paion tinte alla padella
e torte più c’un arco di Sorìa;
le gote ha’ rosse e bianche, quando stacci,
come fra cacio fresco e’ rosolacci.
…………
Quand’io ti veggo, in su ciascuna poppa
mi paion duo cocomer in un sacco,
ond’io m’accendo tutto come stoppa,
bench’io sia dalla zappa rotto e stracco.
Pensa: s’avessi ancor la bella coppa,
ti seguirrei fra l’altre me’ c’un bracco;
SPOTTGEDICHT. (Unvollendet) 1 So süss wie Mus ist dein Gesicht, o Schöne, So glau als wär' ein Schnecklein d'rauf spaziert, Wie Rüben zart; es gleichen deine Zähne Den Pastinaken, und dein Auge stiert Wie die Tiakapflanze grün; ich wähne Durch solchen Glanz wird selbst ein Papst verführt. Wie Zwiebeln weiss und blond sind deine Haare! Erbarm' dich schnell, sonst lieg' ich auf der Bahre! 2. Du bist so hübsch wie Fratzen, die mit Ziegel In Kirchen man gemalt sieht, roth und bunt, Und meiner Börse gleicht, die bis zum Bügel Mit Bucheneckern voll, dein schwarzer Mund, Zu diesen Brauen giebt dir Russ der Tiegel, Die wie ein Syrerbogen krumm und rund, Und deine Backen scheinen meinen Blicken Wie Molm auf frischem Käse, zum Entzücken. Und Hände, Hals und Brust sind anzuschauen! -- Bedeck' sie lieber, Ausbund aller Frauen.
Deutsch von Sophie Hasenclever, aus: Sämmtliche Gedichte Michelangelo’s in Guastis Text mit deutscher Übersetzung von Sophie Hasenclever. Leipzig: Alphons Dürr, 1875, S. 409
Spottstanzen auf eine Vettel.
1
Noch süßer ist Dein Angesicht als Wein,
So blank, als kroch die Schnecke drüberhin,
Und zierlicher kann keine Rübe sein,
Und Zähne weiß, wie Pastinaken, drin!
Du nähmst sogar den Papst so für dich ein ....
Der Augen Farbe: Theriakmedizin;
Mehr weiß und blond, als Schnittlauch, sind die Haare;
Wodurch ich, hilfst Du nicht, zur Grube fahre!
2
Du scheinst an Schönheit schöner noch zu sein,
Als Heil'genbilder an der Kirchenwand,
Mir scheint, Dein Mund gleicht meinem Beutelein,
Das voll von welschen Bohnen bis zum Rand.
Die Brauen sind, in ziegelrothem Schein,
Gebog'ner, als die Wehr aus Syrerland,
Und roth und weiß die Backen, wenn Du kaust,
Als wenn Du Mohn mit frischem Käse schmaust.
3.
.........................
.........................
.........................
.........................
.........................
.........................
Ja, Hände, Arme, Hals, der ganze Leib
Besiegt das Häßlichste am schönsten Weib.
Deutsch von Walter Robert-Tornow. Hrsg. Georg Thouret. Berlin: Spener’sche Buchhandlung (F. Weidling), 1896, S. 70f
OCTAVE STANZAS
You have a face more beautiful than a turnip,
Sweeter than mustard; it appears the snail
Has walked on it, it shines so; like a parsnip
The whiteness of your teeth is, and like treacle
The color of your eyes; surely the Pope
To such as this must be susceptible,
Whiter and blonder than a leek your hair;
So I shall die if I don’t get your favor.
I think your beauty much more beautiful
Than ever in a church a painted man,
And your mouth is just like a pocketful
Of beans, it seems to me, and so is mine.
Your eyebrows seem dyed in a crucible,
And more than a Syrian bow they twine.
Your cheeks are red and white when you sift flour,
Like fresh cheese and poppies mixed together.
And when I look upon you and each breast,
I think they’re like two melons in a satchel,
And then I am like straw, and start to flash,
Although I’m bent and broken by the shovel.
Think, if my lovely cup I still possessed,
I’d follow you past others like a beagle,
And if I thought that getting it was possible,
Here and today[…]“
Aus: Complete Poems and Selected Letters of Michelangelo. Translated, With Foreword and Notes by Creighton Gilbert. Edited, With Biographical Introduction, by Robert N. Linscott. Princeton, New Jersey: Princeton University Press, 1980

Elke Erb
(* 18. Februar 1938 in Scherbach, Rheinland; † 22. Januar 2024 in Berlin)
ANGEKOMMEN IN AHRENSHOOP
Oh, da ging ich zu ihr, der Ostsee, hin
am Abend auf einen Anstandsbesuch.
Aber indem ich stillstand vor ihr,
kamen die Wellen, nicht die, die ich sah,
kamen mit einem Mal Wellen, Wogen, sich
anschlagen schwach an mein Brustbein, unverkennbar
jene von sechs Jahrzehnten zuvor,
die ich, wie alt war ich? – dreizehn?,
sah zum ersten Mal
vor dieser grauen See
in der Erinnerung klein wie zehn.
Schwach, undeutlich empfand ich sie aber,
erkannte sie an der Empfindung,
es war keine Wiederholung.
Brustbein Bewußtsein.
Sie hatten, Wogen, mich schwimmen gelehrt,
da sie mich überfielen
und wieder auftauchen ließen ...
Es geht nichts verloren. Es kann sich melden,
undeutlich, doch unverkennbar, jung.
So sieh. Dann stirbt es mit dir.
Aus: Der ewige Brunnen. Deutsche Gedichte aus zwölf Jahrhunderten. Gesammelt und herausgegeben von Dirk von Petersdorff. München: C. H. Beck, 2023, S. 572
Von Bertram Reinecke, Leipzig
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(Mit Bertram Reineckes Essay startet die Ausgabe 4 des L&Poe-Journals. Erwarten Sie mehr in den nächsten Tagen. Das Gedicht des heutigen Tages finden Sie unter diesem Beitrag).
Die Bezeichnung „Essay“ ist für den Haupttext des dritten Bandes nur eine grobe Näherung, denn der Text enthält auch erzählerische Passagen mit Rollenrede. So kommen ein Youtuber, ein Gamer, eine Leserin usw. zu Wort und es ist jeweils nicht klar markiert, wann der Text wieder in die Stimme des fiktiven Autors zurückfällt. So bleibt passagenweise die Frage „Wer spricht“ unbeantwortet. So wird auch die Funktion von eingestreuten Zitaten anderer DichterInnen und WissenschaftlerInnen im Einzelnen systematisch verunklart. Dienen sie dem Beleg oder der Stützung von Schwitters Argumenten, wie es in einer wissenschaftlichen Arbeit oder einem klassischeren Essay der Fall wäre? Kommentieren sie das Gesagte oder halten sie abweichende Meinungen im Gedächtnis? Oft scheint die eigene Meinung in rhetorische Fragen gekleidet. (Wie das auch in der mündlichen Rede schweizerdeutscher SprecherInnen häufiger vorkommt.[1]) Vielleicht benennt ein Zitat aus Monika Rincks, „Risiko und Idiotie“ auf S. 104 seinen Anspruch: „einen Essay schreiben, von dem das Bürgerliche nicht weiss, was es ist, oder noch besser: Theory-Fiction.“? Mit diesem Verfahren jedenfalls kann Schwitter den Hallraum seines Nachdenkens plastisch vor Augen führen, aber nicht immer wird seine eigene Position dingfest. Er scheint zu seinen jeweiligen Themen oft nur sprachliche Rahmungen geben zu wollen und dem Lesenden die daraus naheliegenden Schlüsse zu überlassen.[2]
Ich werde diesen Text, der einen sehr weiten inhaltlichen Bogen schlägt, hier nur soweit besprechen können, wie er sich auf die Fünfzeiler bezieht.[3]
In diesem Text entwirft er auch ein Bild seiner eigenen Traditionslinien. Er skizziert dort eine Linie der bildhaften Poesie, angefangen bei den ersten Schriftdokumenten über Hölderlin, Benn, Brinkmann und Celan bis hin zu Stolterfoht, Egger und ihm selbst. Für den Beginn dieser Traditionslinie führt er uns zurück zu beschrifteten Felsformationen in Kanaan, wobei eine wichtige Pointe hier ist, dass er die bildlichen Qualitäten von Lautschriften herausarbeitet. (Bei ägyptischen Schriftzeichen hätte das nahegelegen, aber die verwenden wir ja nicht.) Je näher seine Betrachtung der Gegenwart kommt, desto enger wird der Fokus des Autors auf Großdichter, die heute viel gelesen werden. Er möchte uns hier also nicht ermuntern, woanders hinzuschauen, sondern das Allbekannte anders zu lesen: Er konstruiert die Lyrikgeschichte dabei kurzgefasst als ein Amalgam zweier Tendenzen: Den Gesang und das Verfertigen von Bildern. Eine genuine Sprechdichtung lässt diese rigide Zweiteilung nicht zu, zentrale Teile des europäischen Kanons werden also nicht eigens berücksichtigt. So z.B. das Sonett bzw. Klinggedicht. Mag es uns auch aus heutiger Sicht reich an verslichen und lautlichen Klangmitteln scheinen, galt für seine Entstehungszeit das glatte Gegenteil: Für eine Kunststrophe folgen die Reime in vergleichsweise großen Abständen und auch das Versmaß ist uniform und arm an anregenden Wechseln. Der Name der Form bezieht sich mithin also eher darauf, dass das Sonett keine Kenntnis einer Melodie benötigt, sondern sprechend leicht wohlklingend vorzutragen ist. Auch wo die deutschen Versmaße dazu genutzt wurden, den heroischen Hexameter oder das antike Distichon abzubilden[4], waren diese Verse eher als Sprechverse gedacht. Es wird mir nicht klar, wie sie in das Schema des Autors einzuordnen sind.[5] Bemerkenswert ist für mich ebenfalls, wie Benn in die Reihe der Nichtsänger und Bildner gerückt wird. Es bedarf hierfür nur eines Hinweises auf dessen Bemerkung, dass moderne Gedichte besser lesend als hörend aufzufassen sind. Nun sind gerade die Verse Benns, auf die sein Vortrag „Probleme der Lyrik“ gemünzt ist, nämlich seine späteren Gedichte, oft in liedhaften Formen verfasst. Insoweit dies wohl auch für Benn selbst irgend einen Sinn gehabt haben mag[6], sieht man hier erneut: Schwitter geht es weniger darum, rückwirkend Literaturgeschichte zu betrachten und die Intentionen bestimmter Dichtungen nachzuzeichnen, als uns ein heutige Leseweise vorzuschlagen.[7] Zweitens kommt sein Blick auf die Lyrik ohne das Konzept einer inneren Lesestimme aus, während ich mir fast alles und auch Schwitters Lyrik intuitiv innerlich sprechend vergegenwärtige.[8] Vielleicht trifft er hier die Erfahrung vieler jüngerer LyrikleserInnen.[9] Wenn ich mir Schwitters Texte also als durch die Zeilenbrüche theatral inszeniert vorgestellt habe und in die freigestellten Einzelworte eine gewisse Emphase hineingelesen habe, weiß ich nun, dass ich sie gegen den Strich las. Ich sollte die Aura anderer Höreindrücke, die mit so kurzen Zeilen verbunden sind, nicht auf die Zeilenbrüche seiner Fünfzeiler übertragen. Die Zeilenbrüche dienen eher nicht als Anweisungen, sie sprechend umzusetzen, sondern machen nur den Aufbau der Texte transparent. Schwitter schlägt uns eine eher stille meditative Betrachtung seiner Gedichte vor. Allerdings wundert mich dann der Reim in vielen Texten als Residuum des Mündlichen.
Wer eine neue Leseweise vorschlägt, hat vielleicht auch einen anderen Blick auf die Überlieferung. Er würde vielleicht zur Exemplifikation seiner Leseweise auch auf bisher übersehene Meisterwerke verweisen können. Schwitter jedoch hält sich eng an den Höhenkamm[10]. Das legt den Verdacht nahe, dass sein Rückblick auch dazu dienen soll, durch das Aufweisen eines weit nach hinten verlängerten Hallraumes den eigenen Texten Dignität zu verleihen. Das leuchtete mir wenig ein. Erstens glaube ich, dass gerade jenseits des bereits Vielbeachteten poetisch noch etwas zu holen ist. Zweitens ist seine Traditionslinie ja eine, die er konstruiert, während die zitierten Dichter sich selbst nicht in jenem Zusammenhang sähen. Stolterfoht[11] und Brinkmann haben eher gegen Dichtungstraditionen des Celanschen Typs angeschrieben, Benn fiele mir (wenn überhaupt) nicht als erste Bezugsgröße Celans ein, ebenso stellt Hölderlin für Benn im von Schwitter ausgewerteten Essay „Probleme der Lyrik“ einen Abstoßungspunkt dar.[12] Usw.
Mir scheint die Bedeutung von Schwitters Lyrik nicht unbedingt darin zu liegen, dass es sich in ihm um einen Weiterentwickler einer großen Tradition handelte, sondern eher darin, dass er in einer besonderen Ecke des literarischen Feldes hartnäckig auf die Suche geht.
Nun bietet ein Text von einer Länge von anderthalb bis zwei Verszeilen herkömmlicher Länge natürlich bei aller Dichte nur für bestimmte Dinge Raum. Der Autor probiert deshalb im 2. und 3. Band verschiedene Weisen aus, seine Fünfzeiler enger zu verknüpfen und damit auch weitergehende Zusammenhänge besser darstellbar zu machen.
Recht belebt wirkt so der 2 Band seiner Trilogie. Hier werden jeweils 9 abgegrenzte Einzeltexte wie in einem Setzkasten mit drei Zeilen und drei Spalten in einen Betrachtungszusammenhang gebracht. Auch wird hier die Personage lebendiger, es tauchen neben dem unbestimmten Personalpronomen auch andere Personen auf.
zornig wahrscheinlich rief der wirt zahl doch endlich deine zeche jetzt
Die Verwendung eines Imperativs hält mitunter ebenfalls ein Gegenüber im Text anwesend. Während im ersten Band die einzelnen stärker gespannt auf einen Sinn sein müssen, kann hier, wo die Fünfzeiler in einem größerem Zusammenhang stehen, entspannter gearbeitet werden.[13] Offenbar verfolgen viele Texte das Anliegen, Alltagsrede möglichst unverändert in die strenge Struktur zu überführen. Den folgenden Text kennen wir alle, ohne dass wir bisher wussten, dass es sich um einen Fünfzeiler handelt:
wir wollen zunächst annehmen n sei eine beliebige Zahl
In anderen Fällen wirkt die Grammatik jedoch auch recht angespannt damit der Fünfzeiler aufgeht:
wahrscheinlich taten sie was zu tun sie einfach glaubten zu müssen
Wie schon im ersten Band wird auch über Fünzzeiler und das Verfassen solcher Texte räsoniert.
Ein Witz dieser Setzkastenanordnung ist[14], dass die Fünfzeiler einer Seite in der Regel jeweils das gleiche Mittelwort enthalten und so neun Mal den Raum andeuten, der sich jeweils verschieden um dies gleiche Mittelwort bilden lässt. Es geht aber hier, soweit ich sehe, nicht darum den Zirkel in jedem Fall möglichst weit zu ziehen, also gewissermaßen zu vermessen, denn manchmal stehen die einzelnen Texte der Neunergruppe einander ferner, was leichter fällt, wenn man eine Polysemie des Mittelworts ausnutzen kann.[15] Oft wirken sie aber auch eher wie Varianten eines anderen Textes der Gruppe. Zum Beispiel, wenn das Wort „wach“ 3x innnerhalb einer Neunergruppe in Beziehung zum Wort „schach“ gebracht wird.[16] Dass die beiden Wörter reimen unterstützt den Eindruck bloßer Variation noch.[17] Vielleicht drängt sich die Nähe dieser Varianten für Lesende, deren innere Stimme diesen Reim nicht sofort penetrant realisiert, weniger auf?

Eine weitere Komplexitätsstufe kommt dadurch hinzu, dass dieses Schema jeweils alle 9 Seiten wiederum durchbrochen wird, sodass sich die Texte dazwischen zu gleichgroßen Gruppen von jeweils 72 Fünfzeilern zusammenfassen.[18] Auf diesen Sonderseiten stehen dann jeweils verschiedene Dinge in der einsilbigen Mittelzeile, manchmal nach einer speziellen Regel (Einmal zum Beispiel ist es nur jeweils ein einziger Buchstabe, wie in der vorletzten Textprobe.) Manchmal erkenne ich keine Regel. Insgesamt häufig sind dabei in der Mittelzeile Pronomen und Präpositionen, wie sie auch oft das Zentrum der Fünfzeiler des ersten Bandes bildeten.
In den regelmäßigen Setzkästen steht im Gegensatz zu diesen grammatischen Hilfswörtern hingegen in der Regel jeweils derselbe farbige und sprechende Begriff im Vordergrund: „froh“ „Schrott“, „Witz“ usw.[19] An meinen Haiku Samples lässt sich wiederum abschätzen, inwieweit diese zusätzliche Bedingung die formale Strenge nachmals erhöht.[20] Bei Uwe Claus enthält jedes achte Haiku der Gesamtstichprobe (damit jeder zweite der daraus gebildeten Fünfzeiler) ein Vollverb, Adjektiv oder Substantiv, während der Rest auf Pronomen, Präpositionen Hilfsverben usw. entfällt, meine Gelegenheitshaikus wiederum ergeben lediglich in einem aus 22 Haikus einen Fünfzeiler der Art, wie sie den Grundbestand von Schwitters zweitem Buch bilden. (Und dies muss ja noch 9 mal auf dasselbe Wort gelingen, um einen Setzkasten zu füllen!)
Aber wie gesagt: Die Anordnung legt den Fokus nicht auf den einzelnen Text sondern auf deren Zusammenklang. Ein zweites Darstellungselement bildet die Höhe auf der jeder dieser (meist) Neunerblöcke jeweils auf der Seite abgebildet wird. Der Textblock der Seite 1 steht ganz oben, der auf Blatt 2 eine Setzkastenzeile (also 6 Buchzeilen) tiefer und so fort bis sie auf S. 9 der Setzkastenblock ganz unten auf der Seite steht, wonach er Blatt für Blatt gleichmäßig wieder aufsteigt bis er auf S. 17 wieder ganz oben ankommt. Dann wiederholt sich der Zyklus. Neben der Betrachtung der einzelnen vollständigen Setzkästen oder ihrer Anordnung in „Kapitel“ kann man also auch jeweils die Texte auf gleicher Höhe auf der jeweiligen Seite und mit denen anderer Seiten auf der gleichen Höhe vergleichen, (ebenso kann man natürlich auch mit den Spalten usw.) All dies macht neue Lesevorschläge. Sie scheinen aber nur schwach zu präskribieren, was man wohl auf der nächsten Seite findet.
Um es nochmal deutlich zu machen: Während die unteren Regelebenen streng gehandhabt werden, die Fünfzeilergrundregel keine, die Regel ein sprechendes Mittelwort (fast) nur geordnete Ausnahmen duldet, werden die darüberliegenden Regelschichten immer lockerer und anekdotischer. Die angesprochene aufsteigende und absteigende Gliederung ist eher ein zusätzliches Spiel mit der Anordnung und bringt praktisch fast keine zusätzliche Erschwernis in das Erstellen eines solchen Fünfzeiler-Setzkastens. Und zwar, weil man bei über 100 Setzkästen mit langem Hin- und Herschrieben schon eine der Anordnungen finden wird, die dieses Auf- und Absteigen dann inhaltlich irgendwie motiviert erscheinen lässt.[21] Durch dies alles ergibt sich eine eskalierende Vielfalt von Betrachtungsweisen. Als eine letzte Schicht finde ich in diesem zweiten Band neben einzelnen Kursivierungen auch noch eine Anzahl Texte in denen einzelne Wörter mit Bleistift unter- oder durchgestrichen sind[22], wobei die Durchstreichungen aus einem Fünfzeiler eine noch kürzere Sentenz formen, während die einzelnen Unterstreichungen sich so lesen lassen, als würden sie einen Titel für den gesamten Neunerblock vorschlagen. Ich lasse diese letzten Komplexitätsebenen ab hier außen vor.[23]
Die Begleittexte des zweiten Bandes (Rückseite und Mottozitate) kreisen denn auch um Widersprüchlichkeit und Ambiguität.
Auf der Banderole des 3. Bandes werden die Fünfzeiler nun so mit Langzeilen verbunden, dass ein Teil einer Langzeile, die von mehreren Fünfzeilern auf verschiedener Höhe durchschnitten wird, an der Stelle, wo dies jeweils geschieht, die Worte mit der entsprechenden Silbenzahl enthält, die der durch sie vertikal hinweg laufende Fünfzeiler in der Höhe erfordert.
(Textbild Banderole)

Bei den Fünfzeilern, die den Essay des 3. Bandes rahmen und durchschießen handelt es sich (mindestens teilweise) um Wiederaufnahmen aus den vorherigen Bänden.[24]
Teilweise werden auch neue Arrangements der Anordnung ausprobiert, auch sind hier einige Fünfzeiler mittelzentriert oder linksbündig gesetzt, während die Fünfzeiler in den vorherigen Bänden durchgehend rechtsbündig angeordnet waren.
[1] Mit der seltsamen Folge, dass ich lange kein Buch las, wo ich diese rhetorischen Fragen innerlich mit „nein“ beantwortete.
[2] Wenn wir hier Schwitter bestimmte Positionen in den Mund legen, tun wir das mitunter, indem wir sozusagen rückwärtig unter der Unterstellung, sein Text folge den Gricschen Kommunikationsmaximen, den Gehalt aus der Logik seiner Assoziationen zurückübersetzen. Ein Prozess, den jedes Mal nachzuzeichnen hier zu langwierig wäre.
[3] Es sieht so aus, als hätte der Autor, unbeschadet des Titels „die verkettung der fünfzeiler“, den Sprechanlass genutzt, um einen Essay für einen viel breiteren Leserkreis zu schaffen. Der Text handelt auch von Schrift- und Lyrikgeschichte an sich, von Postrock, den Erfahrungen des Autors als Schweizer in den neuen Bundesländern, von Kunst und Ökonomie, enthält außerdem offenherzige Berichte über die Züricher Literaturszene seiner Studienzeit und einen Essay von Cédric Weidmann .
[4] Hier ist nicht nur an die nach Akzent und nicht nach Länge gebauten Verse gleichen Namens zu denken, sondern auch der Alexandriner trat häufig an deren Stelle.
[5] Insbesondere in Bezug auf Hölderlin wird dies auffällig. Auch jenseits der durchgängig metrisch gebundenen Lyrik bleiben Fragen offen: Wie würde sich etwa T.S. Eliots Wastland in das Schema fügen?
[6] Und man hat ja seine Lesungen eigener Gedichte auch im Ohr.
[7] Dies wird auch an seiner Lektüre Hölderlins deutlich, wo die grafische Darbietung dieser Texte in wirr vollgeschriebenen Blättern bzw. deren Repräsentation in den wissenschaftlichen Ausgaben für ihn zum Anlass wird, sie als bildliche Konstellationen und nicht als Versentwürfe aufzufassen. Jedenfalls folge ich Schwitter nicht, wenn er anmerkt, dass jener Dichter, der historisch gern als „Sänger der Deutschen“ tituliert wurde: „wie kein anderer den Übergang vom primär klanglich aufgefassten zum primär bildlich aufgefassten Gedicht markiert.“
[8] Wenn ich davon abweiche, dann allenfalls für genuine Bildgedichte und sehr komplexe Gedichte etwa von Egger oder Priesnitz, für die sich bei mir einfach keine inneren Stimmen nahelegen.
[9] Solche, die ihre Lesegeschichte bereits mit moderner Lyrik begannen und nicht wie ich und andere zunächst viele Jahre fast ausschließlich auf verslich gebundene Lyrik abgerichtet wurden, solche die also nicht einmal in der Schule Gedichte rezitieren mussten oder Schulstunden beiwohnten, in denen sie immer wieder das gleiche Gedicht rezitiert hörten, weil gerade die Kontrolle anstand. Solche, die sich überdies nicht auf Lesebühnen herumtrieben, um dort zahlreiche Vorträge zur Kenntnis nahmen, die sich angelehnt an die lyrische Tradition, inclusive der 70er Jahre Lyrik, deklamatorisch zum Ausdruck brachten, sondern sich in anregender Umgebung (vielleicht eines geisteswissenschafltichen Instituts) sofort still auseinandersetzten mit den ihnen als hochwertig empfohlenen Gedichten.
[10] Oder durchgesetzte GegenwartsgroßdichterInnen: Lerner und Rinck nehmen prominent Raum ein.
[11] Wohlgemerkt, ich möchte nicht behaupten, dass er in den Einzelheiten unbedingt falsch liegt. So hat er zum Beispiel sicherlich recht damit, dass Ulf Stolterfoht die Dichterstimme als Verkörperung von Poesie skeptisch betrachtet und das Wesentliche seiner Literatur in der Schrift aufgehoben sieht.
[12] Dass Schwitters Einzellektüren mir manchmal gewöhnungsbedürftig erscheinen, mag hauptsächlich damit zu tun haben, dass ich eben die Brille, die er mir vorschlägt, noch nicht recht aufsetzen kann.
[13] Diese Gelassenheit und der Blick auf das Erstellen komplexerer Zusammenhänge bedeutet aber auch, dass man Einzeltexte nicht mehr so gut herausnehmen und als Einwürfe zum Gebrauch mit sich tragen kann, wie das noch oft bei den Fünfzeilern des ersten Bandes möglich war. Das mag, angesichts des Umstandes, dass die Praxis Gedichte auswendig zu wissen und sich durch sie zu verständigen, ohnehin im Aussterben begriffen ist und angesichts der Tatsache, dass Schwitter eine meditative Rezeptionsweise bevorzugt, verschmerzbar sein, erwähnt sei es aber doch.
[14] Meine Stiefmutter sammelte auf diese Weise Glöckchen. Jede war verschieden von Farbe und Material, aber es waren alles Glöckchen, die dann in den Setzkasten geordnet wurden.
[15] „scham“ als Gefühl oder Körperteil, oder „takt“ Musikalisch oder im Sinne von Anstandsgefühl usw.
[16] Nur in einem dieser drei Texte ist ein Hauch einer Bedeutungsänderung des Mittelwortes zu spüren: Dass es hier auch um „Wache halten“ zumindest gehen kann und nicht nur um „munter sein“.
[17] Dazu kommen noch 2x „nacht“ „krach“ „dach“ und 2x „lach“ vor. (Allerdings ist die besondere Vielfalt der Reime in dieser Neunergruppe wohl auch dem dafür besonders ergiebigen Mittelwort geschuldet.)
(Auch bei Stolterfoht wundert mich die starke Leugnung der Bedeutung der Stimme zur Verkörperung von Texten angesichts seiner zahlreichen Assonanzen und Binnenklänge immer ein wenig.)
[18] Die letzte Gruppe allerdings enthält nur 18 Texte nach der S. 108, die nur 8 Texte enthält und einen durch „0“ ersetzt, da Blatt 111 wiederum von diesem Schema abweicht und 10 Texte in einer singulären Anordnung zeigt.
[19] Aber auch Kästen zu „und“ und „tun“ schleichen sich dazwischen.
[20] Auch wenn die mögliche statistische Genauigkeit des Samples hier weiter abnimmt, angesichts dieses noch selteneren Ereignisses!
[21] Allenfalls mag Schwitter, sobald ein Platz für einen Setzkasten im Buch ins Auge gefasst war, den einen oder anderen Fünfzeiler durch einen neuen ausgetauscht haben, damit es noch etwas besser passt?
[22] In die Druckauflage manuell eingetragen. Laut Aussage des Autors in allen Bänden der Auflage uniform.
[23] Wie ja auch ein herkömmlicher Lyrikband durch die Reihung der Einzeltexte zwar Rezeptionsvorschläge macht, diese aber in der Regel nicht interpretativ explizit ausgewertet werden.
[24] Herauszubringen, ob das immer der Fall ist, erforderte eine mühsame Erbsenzählerei.
Ernst Stadler
(* 11. August 1883 in Colmar, Elsass; † 30. Oktober 1914 bei Zandvoorde nahe Ypern in Belgien)
VORFRÜHLING
In dieser Märznacht trat ich spät aus meinem Haus.
Die Straßen waren aufgewühlt von Lenzgeruch und grünem Saatregen.
Winde schlugen an. Durch die verstörte Häusersenkung ging ich weit hinaus
Bis zu dem unbedeckten Wall und spürte: meinem Herzen schwoll ein neuer Takt entgegen.
In jedem Lufthauch war ein junges Werden ausgespannt.
Ich lauschte, wie die starken Wirbel mir im Blute rollten.
Schon dehnte sich bereitet Acker. In den Horizonten eingebrannt
war schon die Bläue hoher Morgenstunden, die ins Weite führen sollten.
Die Schleusen knirschten. Abenteuer brach aus allen Fernen.
Überm Kanal, den junge Ausfahrtwinde wellten, wuchsen helle Bahnen,
in deren Licht ich trieb. Schicksal stand wartend in umwehten Sternen.
In meinem Herzen lag ein Stürmen wie von aufgerollten Fahnen.
Aus: Der ewige Brunnen. Deutsche Gedichte aus zwölf Jahrhunderten. Gesammelt und herausgegeben von Dirk von Petersdorff. München: C. H. Beck, 2023, S. 255
Fritz Grünbaum
(geboren am 7. April 1880 in Brünn, Österreich-Ungarn; gestorben am 14. Januar 1941 im KZ Dachau)
ENTWÜRFE FÜR EIN GRÜNBAUM-MONUMENT
Einst, wenn ich satt hab' die menschliche Herde,
Und wenn ich nichts Bess'res zu tun haben werde
Und schlecht werd' gelaunt sein, weil's draußen wird regnen,
Werde ich einfach – »das Zeitliche segnen«.
Ich werde »beschließen mein ruhmvolles Leben«,
Ich werd' »in die bessern Gefilde entschweben«
Und »aufgeben (rekommandiert!) meinen Geist, « –
Kurz, was man auf deutsch eben »Sterben« heißt.
Natürlich sterb' ich nicht nur so daher,
Ich bin doch kein Bauer, ich bin doch wer:
Ein Priester der Dichtkunst, ihr oberster Diener ...
Was brauch ich viel reden: der Abgott der Wiener!
Und wie ich die Wiener schon kenn', die mich schätzen,
Werd'n sie natürlich ein Denkmal mir setzen.
Und über das Denkmal mach' ich mir Sorgen:
Wie wird das ausschau'n heut' oder morgen?
Ich hab' an ein Reiterstandbild gedacht,
Da sitz ich droben in eiserner Pracht,
Die Rechte halt' ich wie segnend erhoben,
Das Pferd galoppiert, und ich – bleib' droben!
Bei Lebzeiten hätt' ich das niemals riskiert.
Ich bitt' Sie, wie rasch ist beim Roß man blamiert!
Links steig' ich hinauf vor den Leuten ganz munter,
Und rechts komm' sofort ich dann wieder hinunter.
Zu Lebzeiten muß ich blamier'n mich beim Reiten,
Schon wenn ich aufsteigen tu' vor den Leuten,
Doch als Denkmal kann leicht ich zu Pferde mich zeigen,
Da brauch' ich vor ihnen nicht aufzusteigen.
Da sitz' ich schon d'rauf, wie auf sicherem Thron,
Ein Roß aus Metall kann nicht laufen davon,
Da gibt es kein Rutschen, kein Fall'n, kein Entgleisen,
Ich bin aus Eisen, das Pferd ist aus Eisen,
Wir zeigen zum Himmel in eisernem Glanz,
Ich mit der Hand und das Roß mit dem Schwanz!
So weit hab' ich alles mir ausgedacht,
Das Roß und den Reiter, den Glanz und die Pracht,
Ich hab' mich direkt schon verliebt in das Pferd,
Aber – die ganze Idee ist nichts wert!
Ich möcht' ja gewiß, als Reiter, als kecker,
Ausschau'n wie frisch grad vom Zuckerbäcker,
Doch wär auch das Denkmal so nett wie ein Kuchen,
Was hab' ich als Dichter auf Rössern zu suchen?
Ein Poet steigt nicht auf und sitzt nicht zu Pferd
Der sitzt im Kaffeehaus und bleibt auf der Erd'.
Es würde gewiß imposant ausschau'n,
Doch wenn ich mit Pferd mich in Marmor laß' hau'n
Oder beritten in Eisen laß' drechseln,
Wird man mich mit dem Radetzky verwechseln!
Schrei'n werd'n die Leute, sobald sie mich sehn:
»Gott, war doch dieser Radetzky schön!
Wie er nur dasitzt! ... No, ist das ein Held?...
Bißl größer nur hätt' ich mir'n vorgestellt!
So scheint's aber immer bei Helden zu sein,
Napoleon, hör' ich, war grad so klein!
Aber da sieht man, es kommt halt beim Mann
Auf den Geist und nicht auf die Meters an.
Den Kopf vom Radetzky muß man betrachten,
Bowele, was der gewonnen hat Schlachten!«
So wird man erzähl'n von Radetzkys Taten,
Daß er der Vater war seiner Soldaten,
Radetzky da und Radetzky dort,
Von Grünbaum dagegen — nicht ein Wort!
No sagen Sie, bitte, ist das ein Vergnügen?
Dazu soll ich ein Denkmal kriegen,
Daß alle Leute in Permanenz
Reden nur soll'n von der Konkurrenz?
Drum schütz' mich vorm Reiterstandbild der Himmel,
Denkmal ja, aber nicht per Schimmel!
Soll ich so leben, wie manche Nacht
Ich über mein Denkmal hab' nachgedacht,
So hab' ich mir also nach qualvollen Tagen
Endlich das Roß aus dem Kopf geschlagen.
Mit der Zoologie geht die Sache nie,
Wie wär's aber dann mit der Mythologie?
Vielleicht geht's in griechischer Auffassung eher:
Als blühender Jüngling, halb Sänger, halb Seher?!
Mit dem Kranz auf dem Kopf und der Leyer zur Hand,
Sonst aber mit - ohne alles Gewand?! ...
Wie soll ich das Ihnen erklären gleich fein?
Versteh'n Sie mich recht: so - »Grünbaum allein ...«,
So — »ganz naturell«, ... à la Paradies ..
So nix um die Hüften und nix um die Füß ...
Quasi so ... »Grünbaum an sich«, wie man sagt ...
Versteh'n Sie mich recht? ... Also: Grünbaum nackt!
Doch auch diese Idee laß' ich fallen geschwind,
Denken Sie nur, wenn's zu regnen beginnt!
Ich hab' Poesie, aber nicht Heroismus,
Ich will ein Denkmal, aber nicht Rheumatismus!
Außerdem möcht' ich mich schrecklich genier'n,
Als Nacktmonument mein Dasein zu führ'n,
Wie immer ich steh', zum Schluß zeig ich her
Der Hälfte des Volks mein nacktes Revers.
Das muß doch die Leut' in Erregung bringen,
Grünbaum als – Götz von Berlichingen!
Ferner noch muß vor der ganzen Stadt
Vorne ich tragen – ein Feigenblatt!
No, jetzt stell'n Sie sich vor, wenn im glühenden Wind
Die Sache im Sommer zu welken beginnt.
Schön möcht' das Publikum schimpfen und zetern,
Wenn ich da anfang' mich roh zu entblättern!
Da werden die Leute erschüttert steh'n
Und – der nackten Wahrheit ins Auge sehn!
Nein, diese Blamage muß bleiben mir fern,
Wenn schon ein Denkmal, dann nur modern!
Im Frack und Spazierstock mit goldenem Knopf,
Den steifen Hut auf dem Lockenkopf,
Die Arme verschränkt und den Blick in Äonen –
Und in der Hosentasch' – zehntausend Kronen!
Und wenn in der Nacht sich kein Lüftchen mehr rührt,
Und wenn sich das Volk, das mich liebte, verliert,
Dann schar'n wie um Orpheus, den griechischen Dichter,
Die Tiere ums Denkmal sich. Lichter und lichter
Scheint uns der Mond, und mein Minnesang ruft
Die Hund' auf der Erd' und die Vögel in der Luft,
Und hoch über mir zieh'n die Schwalben die Kreise,
Und am Sockel lehnen die Hunde leise,
Und all das Getier wird beim Sterneblitzen
Mein Denkmal bei Nacht zum Benetzen benützen,
So tut das Getier seine Liebe mir kund,
Von oben die Vögel, am Sockel der Hund!
Aus: Poesiealbum 389. Fritz Grünbaum. Wilhelmshorst: Märkischer Verlag, 2024, S. 29ff
Rosmarie Waldrop
(* 24. August 1935 in Kitzingen am Main, US-amerikanische Lyrikerin deutscher Herkunft)
WIR WERDEN IMMER FRAGEN, WAS PASSIERT IST
Stell dir eine Hexe in Gestalt eines nackten Mädchens vor. Sag jetzt ihren Namen. Ist er fremd? War die Vorstellung von der Hexe vollständig, bevor du dem Mädchen einen Namen gegeben hast? Bist du einen Pfad, den es nicht gibt, zu einer Quelle dunklen Wassers hinuntergegangen?
Dein Geist macht kleine, unfertige Bewegungen. Weil der Witz auf seine Kosten geht?
Weil er nicht weiß, wohin er sich wenden soll und nur weiter Ausschau hält im Feld möglicher Schritte? Schmerzen? Schauspielerinnen?
Ich höre dich seufzen. Absicht ist weder ein Gefühl noch ein Lip-Sync des Verlangens.
Sie ist kein Bewusstseinszustand. Sie hat keine wirkliche Dauer. Sag mal, geht’s dir nicht gut? Kann man eine Absicht zeitweise haben? Sie aufgeben, wie ein Soldat, erstarrt im Augenblick vor der Schlacht? Und sie dann wieder aufnehmen?
Könnte ich dir befehlen, diesen Satz zu verstehen? So, wie ich dich anweisen könnte, vorwärts zu laufen? Ins Feuer?
Kann solches Verstehen einen Schatten an die Wand werfen, auch wenn eine Vorahnung kein Einschussloch ist?
Ein Anzeichen ist, dass Raum in einen Spiegel gezwungen wird. Als ob sich das Ereignis hinter dem Silber bereithielte. Du bewegst deine Hand, und sie bewegt sich in die andere Richtung. Dann bricht die Erde auf und du gleitest deine dunkelsten Sehnsüchte hinab.
Hexen wurden durch Feuer getötet, durch Wasser, durch in die Luft Hängen, in Erde Vergraben, durch Ersticken, Penetration, Schlagen, Stechen, Zerquetschen auf tausend und eine Weise.
Wie war, sagtest du nochmal, ihr Name?
Aus dem amerikanischen Englisch von Ludwig Drosch und Theresa Mayer, aus: Schreibheft 104, Februar 2025, S. 93. – In dem Heft gibt es ein Dossier zu Rosmarie Waldrop mit Beiträgen und Übersetzungen von Ann Cotten, Elke Erb, Dagmara Kraus, Jan Kuhlbrodt und anderen, darin von Rosmarie Waldrop: Warum schreibe ich Prosagedichte, wenn meine wahre Liebe Verse sind?
Von Bertram Reinecke, Leipzig
(Mit diesem Beitrag startet die lang erwartete Ausgabe 4 des L&Poe-Journals. Erwarten Sie mehr in den nächsten Tagen. Das Gedicht des heutigen Tages finden Sie unter diesem Beitrag).
Fabian Schwitter hat einer von ihm entwickelten 5-zeiligen Gedichtform inzwischen drei Bände gewidmet. Während es sich bei den Bänden eins „nicht ganz hundert fünfzeiler“ und zwei „tausendundein fünfzeiler“ um reine Lyrikbände handelt, ist das Hauptstück des 3. Bandes „die verkettung der fünfzeiler“ ein Essay, der nur noch von einzelnen Fünfzeilern umspielt und durchschossen wird.[1]
Die beiden ersten Bände lassen die Rückseiten der Textseiten leer, sodass Bücher mit viel Weiß entstehen. Der erste Band hat eine Blattzählung, die beim 1. Gedicht beginnt (und somit die ersten Seiten auslässt) und bis 90 reicht.[2] Der zweite Band hat die gleiche Art Blattzählung bis 111.[3] Der dritte Band zählt zwar auch ohne Titelei, ab Beginn des Haupttextes. Allerdings werden diesmal die Seiten gezählt und nicht die Blätter[4] .
Dazu trägt dieser 3. Band noch eine Banderole mit Text, die zahlreiche weitere Fünfzeiler enthält. Es gibt von ihm also inzwischen weit über tausend dieser Fünfzeiler, deren erste Zeile fünf Silben hat, worauf eine dreisilbige Zeile folgt, dann ein einsilbiges Wort, worauf es mit einer drei- und dann einer fünfsilbigen Zeile weitergeht.
Warum sollte man sich in einer so besonderen Form äußern wollen, warum an ihr wie Fabian Schwitter festhalten? Das ist eine Frage, die wenn auch nicht bei mir, so doch häufig auftaucht. Ich bin mit der Antwort: „Warum nicht?“ vollkommen zufrieden. Denn diese Frage lässt sich angesichts jeder poetischen Form stellen. Warum denn ein Sonett? Warum denn ein Haiku? Je weiter auwiebenßer Kurs eine Form ist, sie mag neu oder im Gegenteil aus der Mode geraten sein, desto eher neigen Lesende zu solch einer Nachfrage und die drängende Nachfrage wird zu einer Quelle des Misstrauens gegen das einzelne Gedicht, welches diese Form verkörpert: Schnell, so beobachte ich, wird ein bloß mögliches Problem in dieser Sache mit einem wirklichen verwechselt.[5] Die drängende Frage bringt also strenge Formen auch da unter Verdacht, wo zunächst nichts weiter gegen sie vorliegt.[6] Wir wollen uns deshalb nicht weiter mit ihr beschäftigen.
Aber wie besonders ist die Form überhaupt? Wer durchzählt wird feststellen, dass man seine Fünfzeiler auch als eine Sonderform des Haiku betrachten kann: Zwischen zwei fünfsilbige Zeilen kommt eine siebensilbige, die allerdings die Sonderbedingung erfüllen muss, dass sie ein einsilbiges Mittelwort enthält und somit dreigeteilt werden kann. Muss die Silbenzählung also hier strenger gehandhabt werden als im deutschen Haiku, so überschreitet Schwitter die inhaltlichen Kriterien, die man traditionell mit dem Haiku verbindet. (Außermenschlicher Naturprozess, der als gegenwärtig geschildert wird. Etc.). Naturprozesse werden in diesem ersten Band nur gelegentlich behandelt, vor allem geht es um Ichzustände, erst der 16. Text hat ein anderes Personalpronomen als das Ich und seine Derivate.[7] Insgesamt gibt es eine Hand voll unter den 99 Texten dieses Bandes (plus ein Mottotext von Oswald Egger) die ein Du enthalten, aber selbst bei denen ist nicht immer klar, ob es sich dabei nicht um das Du der Selbstanrede handelt. Der Text:
bist du mir in fleisch und blut so setz ich dich frei ein ums andere mal
handelt scheinbar ja eher von der Produktion von Fünfzeilern, womit das „du“ sich auf das Verhältnis des Dichters zum Material bezöge. Man kann es allerdings auch als chiffriertes Liebesgedicht lesen. Aber für die Annahme, dass ein poetologischer Text intendiert war, spricht seine Anordnung auf der Seite. Der erste Band der Trilogie bringt lediglich einen Text pro Doppelseite[8] und weist jedem nach einem Schema einen Platz zu. Die Texte der unteren Spalte lese ich vergleichsweise häufig als poetischen Selbstkommentar.
Manche Texte scheinen auch Haltungen fremder Texte auf einen Fünfzeiler zuzuspitzen. So wirkt der Text:
es war mir danach allein zu sein um menschen mich zuzuwenden.
wie eine Replik auf Caspar David Friedrichs berühmtes Gedicht:
Ihr nennt mich Menschenfeind,
Weil ich Gesellschaft meide.
Ihr irret euch,
Ich liebe sie.
Doch um die Menschen nicht zu hassen,
Muß ich den Umgang unterlassen.
ein anderer lässt mich an Celans Sprachgitter denken:
können wir leben du wie ich und ich wie du können wir leben
Bei der Kürze der Fünfzeiler lassen sich solche Koinzidenzen nicht systematisch darauf prüfen, ob sie sich eventuell dem Zufall verdanken.[9]
Andere Fünfzeiler gewinnen eine fast Brechtsche Lakonie in einem fast Danteschen Tonfall:
bewegten sich doch auch diese gleich jenen schon in geteilter welt
Dem klassischen Haiku am Nächsten sind eine Handvoll Texte, die keinerlei Personalpronomen enthalten:
am himmel wachsen quellwolken wie blumenkohl zwischen rost und schrott
Wie im Haiku üblich nutzt Schwitter das Vokabular im Mittelbereich der Sprache. Im Gegensatz zu stark mündlichen oder schriftsprachlich geprägten, nutzt er Wörter, die in mündlicher wie schriftlicher Rede gleich unauffällig sind. Das gleiche gilt in Bezug auf Abstraktion oder Konkretheit. Reine Abstrakta sind ebensowenig vorhanden wie die Schicht stark überkonkreter, oft regional geprägter Begriffe, die vielen Gegenwartsgedichten Kolorit geben. Poetisch besonders aufgeladene Begriffe wo, wie im letzten Beispiel, nicht gänzlich gemieden, werden häufig ausbalanciert mit Wendungen, die auf ostentativ Alltägliches verweisen. (Während diese poetisch aufgeladenen Begriffe bei Haikudichtern oft in höherer Frequenz auftreten.)
Konsequenter Weise beruft sich der Autor auch nicht auf die Haikutradition. Auch wenn er in dem in der letzte Fußnote erwähnten Essay seine Beschäftigung mit ZEN öffentlich macht. Die deutsche Haikutradition fügt sich ja ohnehin nicht bruchlos an die japanische, da schon die Wiedergabe der japanischen More im deutschen Haiku als Silbe bei näherem Hinsehen nicht vollständig korrekt ist. Ein zweiter Grund Abstand zum Haiku zu suchen, mag neben der Tatsache, dass sich in dieser Bubble allerhand LebensweisheitverkünderInnen und rückwärtsgewandte NaturdichterInnen herumtreiben, auch darin zu suchen sein, dass der Autor sensibel ist in solchen Fragen wie der der kulturellen Aneignung.
Während sich seine Texte also inhaltlich mehr Freiheiten nehmen, als der typische Haiku, sind sie formal strenger. Lässt sich irgendwie angeben, um wie viel mehr?[10] Verstehen wir formale Strenge hier als ein Maß, wie viel unwahrscheinlicher das Entstehen eines solchen Fünfzeilers ist, als seine Entstehung wäre, wenn jemand ohne Rücksicht auf die Spaltbarkeit des Fünfzeilers poetisch räsonierte, können wir seine Fünfzeiler gut zu einem normalen Haiku in Beziehung setzen indem wir nachzählen, wie oft sich spontan in anderen Haikus eine Struktur bildet, die sich in einen Fünfzeiler aufbrechen ließe ohne den Wortbestand zu beschädigen. Ich werte, um dies abzuschätzen, zwei von der Anzahl zweistellige Samples aus, einmal von einem Dichter, der sich selbst als Haikudichter versteht (Uwe Claus), und einmal von einem, der nur gelegentlich Haikus schreibt und sich wenig bis gar nicht um den Geist des klassischen Haiku schert. (Nämlich ich selbst.) Bei Uwe Claus hat ein Viertel der Haikus eine Struktur, die sich zwanglos in Fünfzeiler überführen ließe, bei meinen eigenen Texten ist es knapp jeder dritte. Was lässt sich daraus schließen: Je nachdem, welche Forderungen man inhaltlich oder vokabulatorisch an einen Siebzehnsilber stellt, sind Schwitters Texte um mehr als das Dreifache unwahrscheinlicher zu erreichen als ein Haiku. Damit ist die objektive Hürde beschrieben, was sich nicht ganz deckt mit dem subjektiven Schwierigkeitsgrad, denn man wird Strategien entwickeln mit dem erhöhten Schwierigkeitsgrad umzugehen, etwa lässt sich leicht denken, und Schwitter beschreibt auch genau dies in seinem Essay, dass er, im Gegensatz zu einem Haiku, der gewohnheitsmäßig wohl meist von oben nach unten entwickelt wird, seine Texte aus der Mitte heraus baut wie ein Palindrom.[11] Ich kann mir vorstellen, dass solche Fünfzeiler immer schneller entstehen, wenn man nicht durch weitere Randbedingungen den Schwierigkeitsgrad erhöht. Im dritten Band „Die Verkettung der Fünfzeiler“, dessen Zentrum ein Essay zu seinem dichterischen Verständnis bildet, beschreibt er, dass ihn mit längerer Routine diese Fünfzeiler teils Nachts und Tags bedrängen.
(Fortsetzung in der nächsten Woche).
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[1] Alle drei Bände sind als großformatige, fein gestaltete Hardcover in der Edition Howeg erschienen. Leider scheint sich der Verlag mit der Anzeige seiner Publikationen keine besondere Mühe zu geben: Die Bücher haben einen kargen VLB Eintrag, der weder Cover noch Hauptbeschreibung bietet. (Auch die Homepage des Verlegers ist nicht allzu gepflegt.) Vielleicht muss man das nicht, wenn man „Bücher für Kenner“ (so der Verlagsslogan) macht?
[2] Nach herkömmlicher Zählung hat der Band somit insgesamt 188 Seiten.
[3] Nach herkömmlicher Zählung ergibt das 230 Seiten.
[4] bis 128 , bei 140. Seiten nach herkömmlicher Zählung. Der Verlag gibt wiederum für alle drei Bände Phantasiezahlen an: 110 für den ersten, für den zweiten Band 115 und für den dritten 120 Seiten.
[5] Schnell wird auch ein weniger glückender Text der Form an sich exemplarisch angelastet und damit auf alle Texte übertragen, während wir uns irgendwie daran gewöhnt haben, dass schwache, ja tausende schwache Gedichte nicht gegen den Umstand sprechen, dass es auch gute Gedichte gibt.
[6] Wir könnten jedes Mal natürlich auch immer fragen: Warum in freien Versen? Aber wir tun das kaum, weil uns eben geläufig ist, dass viele es heute so machen. Etwas näher habe ich mich mit dieser Frage in meinem Essay „Haltung und Versgrammatik“ beschäftigt: Dort heißt es, solche „Reflexe, die die Frage moderieren, was sich bis zu welchem Punkt rechtfertigen muss, und was sich, im Gegensatz dazu, von selbst versteht, scheinen mir oft bestimmender für die Geschichte der Dichtkunst, als die Entdeckungen neuer dichterischer Techniken und Sageweisen oder die Fortentwicklung des analytischen Bestecks. Denn zuerst verbieten sich in einem solchen Fall diejenigen den Mund, denen eine heikle Sache nicht wichtig genug ist, zweitens diejenigen, die unsicher sind, ob sie argumentativ schlagfertig genug sind. Die übrigen wissen, dass für die Klärung einer solch umstrittenen Frage ein gewisser Aufwand nötig wird, für den nicht in jeder Situation Raum ist. Dadurch wird eine Position umso exotischer, und schon deshalb steigt für diejenigen, die sie vertreten möchten, die Rechtfertigungslast. Ein Teufelskreis in dem Positionen untergehen können, ohne dass je ein valides Argument gegen sie vorlag.“ https://lyrikzeitung.com/2022/04/28/bei-der-lekture-eines-franzosischen-textes/ (dort Fußnote 7)
[7] Konsequenter Weise besteht der Klappentext aus vier Zitaten, die sich mit dem Problem der Erfassbarkeit des eigenen Lebens beschäftigen.
[8] Mit Ausnahme der S. 42, kurz vor der Mitte, auf der plötzlich 6 Texte erscheinen und zwei Seiten, auf denen sich je 3 Texte befinden.
[9] Unabhängig davon, dass das für den Leseeindruck egal ist, bin ich gerade in diesem Fall sicher, dass Schwitter die hier unterstellte Vorlage vertraut ist. Einen andern Fünfzeiler (Blatt 19) weist der Autor selbst in einem Essay als Celanreplik aus: https://fabian-schwitter.com/fuenfzeiler/
[10] Im Geiste der französischen Gruppe Oulipo, die literarische Verfahren erfanden, deren Schwierigkeitsgrade bestimmten und dann Texte nach diesem Muster schufen, wollen wir hier diese Frage auch besonders im Blick behalten.
[11] Über solche Verschiebung des Schwierigkeitsgrades durch Veränderungen der Routinen wird öffentlich zu wenig geredet. In einer Seminargruppe des Literaturinstitutes erschien die Aufgabe, ein Sonett zu verfassen, so fordernd, dass, außer meinen, keine regelrechten Sonette zu Stande kamen. Eine größere Gruppe von AutorInnen war immerhin so clever in die inhaltlichen Aussagen ihrer Sonette poetische Argumente einzuflechten, warum das Sonett hier überwunden oder überschritten werden müsse. Wie viel mangelnde praktische Erfahrung im Umgang mit Textherstellung hier oft vorherrscht, zeigt die Tatsache, wie vielen Herausgebern von Anthologien zur Gegenwartslyrik diese naheliegende Lösung, poetologisch die Strenge im Gedicht zu verwerfen, noch als geschickter poetischer Move erscheint. Der versierte Sonettist wird, anders als die meisten DichterInnen, die (laut poetischen Eigenaussagen ebenso wie nach Textbeobachtungen) zumeist das Grundgerüst hauptsächlich von oben nach unten erarbeiten, an entfernten Zeilen zugleich werken, die er oft wiederum auch rückwärts erarbeitet. Er weiß bei längeren Wörtern meist sofort, wo ungefähr im Vers sie zu liegen kommen müssen usw. Welchen Unterschied solche Strategien machen, erwies mir die Tatsache, dass ich an meinem ersten regelrechten Sonett ca. 3 Wochen immer wieder hin und her schieben musste, während die nächsten schon in unter einer Woche ihre Form gefunden hatten. Heute kann ich leicht in unter einer Stunde ein Sonett zusammenschieben. Das Erfüllen der Form selbst ist nicht der Markstein der Qualität, sondern erstens, ob sich ein interessanter Gedanke darin ausspricht und zweitens, wie das Interplay mit den Voraussetzungen der Form organisiert ist. (Viele Sonette wirken vor allem deswegen uninteressant auf mich, weil der gewählte Gegenstand so gewählt ist, dass er gut in die Form passt, sodass ein vorhersagbares und statisches Gebilde entsteht.)
Ernest Bryll
(* 1. März 1935, heute vor 90 Jahren, in Warschau; † 16. März 2024 ebenda)
Seit Jahrhunderten lügt man uns ein Griechenland vor –
weiß und edel, wie der Mäander von Platos Reden,
strotzend von Säulen, die nur geborsten, daß sie sich
schöner ausnehmen in den Skizzenheften der Damen.
Nichts vom Gestank der Leber – züchtig
wie eine ältliche Jungfer zwickt der Geier Prometheus.
Nichts von unziemlicher Geilheit – Zeus berührt
Europa kaum mit dem Horn.
Ehrwürdige Landschaft,
wo Sokrates starb, um dem Gesetz Genüge zu tun.
Heimat des Goldenen Schnittes und dorischer Ordnung,
noch mit Demosthenes, dem man schon so viel Steine
an Sinnsprüchen in den Mund gelegt, daß nicht Zeit bleibt,
seiner Gedanken sich zu erinnern...
Alle Verbrechen sorgsam getrocknet,
glatt gepreßt in den Nachschlagewerken. Blut allenfalls,
um Leidenschaft in die Kommentare zu bringen.
Süßer als Ambra die Luft – der drakonische Tod
für den Raub eines Apfels ins fade Stichwort verbannt.
Gehäutet
vom felldicken Ocker, vom rohen Azur stehen
die Tempel, zur Würde strenger Regeln erhoben,
in unsrem Gedächtnis so überaus makellos
wie vielbeiniger Tiere uninteressantes Skelett.
Deutsch von Annemarie Bostroem, aus: POLNISCHE LYRIK AUS FÜNF JAHRZEHNTEN. Hrsg. v. Henryk Bereska u. Heinrich Olschowsky. Berlin und Weimar: Aufbau, 1975, 2. Aufl. 1977, S. 389
Ganz am Ende der neuen Ausgabe des famosen Schreibheft (#104, Februar 2025, S. 146) unter den Angaben zu den Autoren steht ein Gedicht von Urs Allemann, gut versteckt und nicht im Inhaltsverzeichnis.
Urs Allemann
(* 1. April 1948 in Schlieren; † 24. November 2024 in Goslar)
RAUS AUS DEM REIN IN DEN KRIEG
Als ich mitkriegte, dass ich kein Ge-
dicht mehr hinkriegte, kriegte ich Angst.
Hätte, um die Angst wegzukriegen,
zu gern rausgekriegt: Alter – wovor?
So ... Gleich hat sichs ausge-
Kriegt ... Krieg keine Luft ...
„Keine Luft" oder „keine Luft mehr"?
Würd zu gern wen rumkriegen dazu,
das noch rasch für mich auf die Reihe
zu kriegen.
Gern kann paar in die Fresse kriegen,
wer es über sich kriegt zu de-
kretiern: Kriegst du selber gebacken!
„Paar" oder „eins"? Gleich
krieg ich die Krise.
Kenneth Koch
(Geboren am 27. Februar 1925, heute vor 100 Jahren, in Cincinnati, Ohio, gestorben am 6. Juli 2002 in New York City, amerikanischer Dichter der New York School)
Aus: Die Dichtkunst
Um ein Gedicht zu schreiben, ist tadellose körperliche
Verfassung
Wünschenswert, jedoch keineswegs nötig. Keats hat
Bei schlechter Gesundheit geschrieben, D.H. Lawrence
ebenso. Ein Zusammenwirken
Von Krankheit und Alter ist hinderlich beim Dichten, aber
Keines von beiden für sich allein genommen, es sei denn
Arteriosklerose, sprich
Verkalkung der Gefäße, doch wollen wir das als eine mit dem Alter
Einhergehende Erkrankung verbuchen und somit als
negativen Begleitumstand.
Geistige Gesundheit ist sicher keine Grundbedingung für
Die Erschaffung poetischer Schönheit, allerdings scheint ein
gewisses Maß
Davon günstig, bis auf seltene Ausnahmefälle. Schizophrene Dichtung
Ist gern vage, zusammenhanglos, unkritisch gegenüber sich
selbst, in mancherlei Hinsicht also
Ähnlich den besten Beispielen unserer modernen Dichtkunst,
Andererseits aber verschieden von diesen in ihrem
mangelnden Sinn
Für Verdichtung und feinere Nuancen. Ein paar große Werke
Von angeblich «wahnsinnigen» Dichtern sind uns natürlich
allen vertraut,
Etwa die von Christopher Smart, bloß frage ich mich, wie
verrückt sie eigentlich waren,
Diese Dichter, die derart anspruchsvolle Versgebilde schaffen konnten.
Blake und «wahnsinnig», das erscheint mir schon sehr unwahrscheinlich.
Aber wie steht's mit Wordsworth? Nicht verrückt, meine ich,
doch was ist mit seinem späteren Werk, langweilig
Bis an die Grenze des Schwachsinns, und erst seine
zerstörerischen «Korrekturen»
Am Prelude, während das Gedicht weitergründelte durch die Untiefen der Kunst!
Er war wirklich schauderhaft nach seiner «Ode:
Intimations of Immortality from Recollections of Early
Childhood», weitestgehend
Jedenfalls, finde ich. Auch Walt Whitmans «Korrekturen» an
seinen Leaves of Grass,
Und speziell dem «Song of Myself», sind beinah durchweg fürchterlich.
Gibt es überhaupt einen Weg, seine alten Tage zu erreichen
und Ruhm und Anerkennung,
Voll Stolz auf das Geleistete und im Wissen um
gesellschaftliche Akzeptanz,
Ohne daß man lausiger und lausiger wird und jegliches Talent
flöten geht? Ja,
Yeats zeigt, daß das klappen kann. Und Sophokles hat
gedichtet, bis er hundertundeins war
Oder hundert, immerhin, hat Wein gesoffen und die Nächte durchtanzt,
Allerdings war der ein Alter Grieche und hilft uns
möglicherweise hier nicht. Dann
Wiederum vielleicht sehr wohl. In gewissem Sinne geht es offenbar
Darum, zu wachsen und sich weiterzuentwickeln und dabei
doch jung zu bleiben –
(...)
Deutsch von Uli Becker, aus: Zwischen den Zeilen. Eine Zeitschrift für Gedichte und ihre Poetik. Nr. 16, Oktober 2000, S. 87/89
From: The Art of Poetry
To write a poem, perfect physical condition
Is desirable but not necessary. Keats wrote
In poor health, as did D. H. Lawrence. A combination
Of disease and old age is an impediment to writing, but
Neither is, alone, unless there is arteriosclerosis-that is,
Hardening of the arteries—but that we shall count as a disease
Accompanying old age and therefore a negative condition.
Mental health is certainly not a necessity for the
Creation of poetic beauty, but a degree of it
Would seem to be, except in rare cases. Schizophrenic poetry
Tends to be loose, disjointed, uncritical of itself, in some ways
Like what is best in our modern practice of the poetic art
But unlike it in others, in its lack of concern
For intensity and nuance. A few great poems
By poets supposed to be «mad» are of course known to us all,
Such as those of Christopher Smart, but I wonder how crazy they were,
These poets who wrote such contraptions of exigent art?
As for Blake's being «crazy,» that seems to me very unlikely.
But what about Wordsworth? Not crazy, I mean, but what
about his later work, boring
To the point of inanity, almost, and the destructive
«corrections» he made
To his Prelude, as it nosed along, through the shallows of art?
He was really terrible after he wrote the «Ode:
Intimations of Immortality from Recollections of Early
Childhood,» for the most part,
Or so it seems to me. Walt Whitman's «corrections,» too, of
the Leaves of Grass,
And especially «Song of Myself,» are almost always terrible.
Is there some way to ride to old age and to fame and acceptance
And pride in oneself and the knowledge society approves one
Without getting lousier and lousier and depleted of talent? Yes,
Yeats shows it could be. And Sophocles wrote poetry until he
was a hundred and one,
Or a hundred, anyway, and drank wine and danced all night,
But he was an Ancient Greek and so may not help us here. On
The other hand, he may. There is, it would seem, a sense
In which one must grow and develop, and yet stay young—
Ebd. S. 86/88
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