Alles war Lüge

Werner Bergengruen 

(* 4. Septemberjul. / 16. September 1892greg. in Riga, Gouvernement Livland, Russisches Reich; † 4. September 1964 in Baden-Baden)

Die Lüge

Wo ist das Volk, das dies schadlos an seiner Seele ertrüge?
Jahre und Jahre war unsere tägliche Nahrung die Lüge.
Festlich hoben sie an, bekränzten Maschinen und Pflüge,
sprachen von Freiheit und Brot, und alles, alles war Lüge.
Borgten von heldischer Vorzeit aufrauschende Adlerflüge,
rühmten in Vätern sich selbst, und alles, alles war Lüge.
Durch die Straßen marschierten die endlosen Fahnenzüge,
Glocken dröhnten dazu, und alles, alles war Lüge.
Nicht nach totem Gesetz bemaßen sie Lobspruch und Rüge,
Leben riefen sie an, und alles, alles war Lüge.
Dürres sollte erblühn! Sie wußten sich keine Genüge
in der Verheißung des Heils, und alles, alles war Lüge.
Noch das Blut an den Händen, umflorten sie Aschenkrüge,
sangen der Toten Ruhm, und alles, alles war Lüge.
Lüge atmeten wir. Bis ins innerste Herzgefüge
sickerte, Tropfen für Tropfen, der giftige Nebel der Lüge.
Und wir schrieen zur Hölle, gewürgt, erstickt von der Lüge,
daß im Strahl der Vernichtung die Wahrheit herniederschlüge.

[1944]

Dieses Gedicht las ich zuerst vor Jahrzehnten in der Anthologie „Politische Gedichte der Deutschen aus acht Jahrhunderten“, herausgegeben von Hans Heinrich Reuter 1960 in Leipzig, DDR, und fand es später in diversen Gedichtanthologien wieder. Gedruckt wurde es zuerst 1945 in Zürich und München in dem Band »Dies Irae«.

Friedemann Berger (1940-2009)

Heute vor 85 Jahren wurde Friedemann Berger in der Stadt Schroda geboren, die polnisch war, preußisch wurde, dann wieder polnisch, zur Zeit seiner Geburt wieder deutsch war und 1945 wieder polnisch wurde. Der polnische Name heißt Środa, heute mit dem Zusatz Wielkopolska. Środa ist das polnische Wort für Mittwoch.

Ich habe für den Anlass ein Gedicht aus seinem ersten Lyrikband ausgesucht, der 1973 im Union Verlag erschien und den ich mir als Student gekauft habe. Berger hatte in Naumburg und Berlin Theologie und Germanistik studiert. Dem Buch ist ein Gespräch beigefügt, das Gerhard Wolf mit dem Autor führte. Es gibt darin Anstreichungen von der Hand meines damaligen Ichs. Wolf sprach mit Berger nicht über den „Stoff“ der Gedichte (auf dem der Schulunterricht und teilweise auch die Universität herumritten), sondern über die Struktur, es kamen Worte vor wie Wortreim und Wort-Refrain. Vielleicht erklärt das auch, warum ich dieses Gedicht ausgesucht habe (ich kenne auch die beiden anderen Gedichtbände Bergers von 1987 und 2000).

Friedemann Berger 

(* 13. April 1940 in Schroda; † 14. April 2009 in Leipzig)

WORT.
Wort, das
ich nicht hab.
Schotterwort.
Steinwort, mit den
Buchstaben vor A.

Ich steh.
Steh gegen den
Wind, gegen –.
Schotterwort,
Steinwort, ich
steh. Ich steh mit
den fragenden
Händen.

Nur
Geruch deines
Haars, dessen
Namen ich
suche.

Aus: Friedemann Berger, OrtsZeichen. Berlin: Union Verlag, 1973, S. 45

Ich habe ChatGPT gefragt: Kannst du das Gedicht „Wort“ von Friedemann Berger beschreiben? (Und natürlich den Text eingegeben.) Die Antwort:

Klar! Das Gedicht „WORT.“ von Friedemann Berger wirkt sehr reduziert, beinahe fragmentarisch, aber gerade dadurch intensiv und vielschichtig. Hier ein Versuch einer Beschreibung:

Form und Stil:

Das Gedicht ist sehr knapp, elliptisch, fast tastend formuliert. Es nutzt Wiederholungen („Ich steh.“) und kurze, abgehackte Sätze, was eine Art sprachliches Stocken oder Ringen mit dem Ausdruck vermittelt. Der Punkt im Titel „WORT.“ signalisiert vielleicht schon, dass es sich hier nicht nur um Sprache, sondern um ein blockiertes, schwer greifbares oder nicht vorhandenes Wort handelt.

Bildsprache und Bedeutung:

„Schotterwort“ / „Steinwort“: Diese Wortneuschöpfungen lassen Sprache schwer, brüchig, widerständig erscheinen. Ein „Schotterwort“ ist kein fließendes, weiches Wort, sondern kantig und hart – wie etwas, das nicht kommunizieren, sondern eher stören oder verletzen kann.

„mit den Buchstaben vor A“: Ein paradoxes Bild – es gibt keine Buchstaben vor A, es ist der Anfang des Alphabets. Das könnte für Sprachlosigkeit stehen, für einen Ausdruck, der noch vor der Sprache liegt – das Unaussprechliche.

„Ich steh.“ – „gegen den Wind“ – „mit den fragenden Händen“: Diese Verse erzeugen das Bild einer Person, die trotz Widerstand standhält, aber innerlich suchend ist. Das „Stehen“ wird zum Ausdruck von Starrheit oder Festhalten, aber auch von Trotz oder Verlorenheit.

„Geruch deines Haars, dessen Namen ich suche.“ – Am Ende wird das Gedicht zarter, sinnlicher: Es gibt ein Gegenüber, eine Erinnerung, vielleicht eine geliebte Person. Der Geruch ist präsent, aber der „Name“ fehlt – als würde das Ich versuchen, etwas Vergangenes oder Verlorenes in Sprache zu fassen, aber daran scheitern.

Themen:

• Sprachlosigkeit und das Ringen um Ausdruck

• Verlust, Erinnerung, Sehnsucht

• Die Materialität von Sprache (Worte als „Stein“, als „Schotter“)

• Existenz im Widerstand: stehen „gegen den Wind“, mit „fragenden Händen“

Gesamteindruck:

Ein intensives, reduziertes Gedicht, das um Sprachlosigkeit kreist – nicht als Leere, sondern als Widerstand, als etwas Schweres, das zwischen dem Ich und dem Du steht. Die Sprache wird selbst zum Thema: ihre Unzulänglichkeit, ihre Härte, ihr tastendes Suchen nach Nähe und Sinn.

Bis hierhin also KI. Gar nicht mal schlecht. Hätte ich statt „beschreiben“ nach „interpretieren“ gefragt, hätte ich vermutlich eine andere Antwort bekommen. ChatGPT bot es mir am Ende an:

Möchtest du eine poetischere Umschreibung, eine Analyse in einem bestimmten Stil oder Zusammenhang (z. B. Liebeslyrik, Sprachkritik, etc.)?

Ich verstehe, dass Lehrer damit massive Probleme haben. Aber vielleicht könnten sie diese Möglichkeiten sogar nutzen (und die Leser auch): um genauer hinsehen zu lernen? KI als Lesetrainer.

Sie war

Roland Erb 

(* 1. April 1943 in Töppeln, Thüringen)

Kypris

Sie war so verschüchtert und zugeknöpft,
dass sich kein Anblick eröffnete.
Sie war so verkantet, verschachtelt,
dass die Zwillingsplaneten nicht kreisten.
Sie war so von Fertigteilen umstellt,
dass der Zutritt zur Pforte versperrt blieb.
Sie war so dicht mit Planen bedeckt,
dass die Knospen nicht springen wollten.
Sie war so vom blinden Wahn vermauert,
dass sie nicht aus sich raus ging.
Sie war so höllisch verriegelt,
dass sie des Himmels Hauch nicht spürte.
Sie war so im Permafrost eingeklemmt,
dass mir das Blut in den Adern gefror.

Aus: Roland Erb, Trotz aller feindlichen Nachricht. Gedichte. Leipzig: poetenladen, 2014, S. 69

Trigonia

Hellmuth Opitz 

(* 6. Januar 1959 in Bielefeld)

Nachmittag einer Kindheit

Flügelschlag des Erinnerns:
Libellen, blaue Nadeln
die ein zerrissenes Bild
zusammenflicken:

Die von der Hitze
aufgemeißelten Nachmittage
in der Tongrube bei der
stillgelegten Ziegelei

wo es nach Brennesseln roch
und Pisse. Ringsum Tümpel, Teiche
dazwischen der Junge
auf der Suche nach Fossilien.

Selten fündig: ein Ammonit,
in Pyrit gebrüht, mit viel Glück
eine handtellergroße Muschel
Trigonia genannt, ihr Verschluß

erinnerte ihn an etwas, das
er noch nie gesehen hatte.
Ein Blinzeln später
intensive Forschungsarbeiten

an Mädchen: Einmal hätte er
vor Überraschung fast laut
Trigonia geschrieen, aber auch das
vor Millionen Jahren:

im Oberen Jura der Kindheit.

Aus: Hellmuth Opitz, Die Sekunden vor Augenaufschlag. Gedichte. Bielefeld: Pendragon, 2006, S. 76

Trigonia aspera print. Iconographia Zoologica. Special Collections University of Amsterdam
Amsterdam, Netherlands

Stele für Boehlendorff

Am 10. April 1825 starb von eigener Hand Casimir Ulrich Boehlendorff, ein weitgehend vergessener Dichter der deutschen Romantik, dessen Werk erst postum Anerkennung fand. Sein schmaler lyrischer Nachlass, geprägt von existenzieller Tiefe, Naturerfahrung und metaphysischer Sehnsucht, stellt eine eigenwillige Stimme im Gefüge der romantischen Dichtung dar. Zum 200. Todestag drei Gedichte und ein Fragment aus dem Werk des Dichters.

Casimir Ulrich Boehlendorff 

(* 16. Mai 1775, vermutlich in Mitau, Kurland; † 10. April 1825 in Markgrafen, Kurland)

Mein Lied.

[Bruchstück]

Ich singe nur ein kleines Lied,
Das nicht ins Weite ringet.

[...]

Aus: Casimir Ulrich Boehlendorff: Werke in drei Bänden. Hrsg. von Frieder Schellhase. Frankfurt am Main: Stroemfeld / Roter Stern, 2000, Band 2, S. 9

Von diesem Gedicht sind leider nur die zwei Zeilen übrig, die ein Zeitgenosse zu zitieren nötig fand.

Ode auf sich.

Dieser singt von Thebens Schlacht,
Jener, wie der Griechen Macht
Einst vor Troja sich geschlagen
Ich – von meinen Niederlagen;
Keine Fußarmee, kein Reiter
Haben jemals mich besiegt,
Mich bezwang, o Freund, ein Streiter,
Dem der Pfeil vom Auge fliegt.

Ebd. S. 149

Dieses in der Werkausgabe 2000 zuerst gedruckte Gedicht ist die Übersetzung einer Ode des griechischen Dichters Anakreon.

Ungestilltes Sehnen.

Soll ich immer weiter wandern,
Selten rasten, nimmer ruhn?
Ach! da komm' ich nur zu Andern,
Aber nimmer zu den Meinen;
Weiss von Keinen,
Die mit Lust mir Liebes thun.

Zieht der Schwan in gold'nen Kreisen
Durch die blauen Himmelshöhn,
Denk' ich: könnt' ich mit Dir reisen!
Liebend findest du die Lieben;
Mich im trüben
Nebel will kein Herz verstehn!

Heimath ist mir längst entschwunden,
Lieb' und Frieden sucht mein Herz,
Hat sie nimmer doch gefunden;
Ach! es sucht bis zum Ermüden
Lieb' und Frieden!
Werd' nicht müd', mein armes Herz! –

Ebd. S. 198

Einsamkeit.
Mich treibt ein unerklärlich tiefes Sehnen
Durch's Leben hin;
Ich suche Frieden, ach! und finde Thränen,
Wo ich auch bin.

Kein Weib, kein Kind beschwichtigt meinen Busen
Im Lebensdrang,
Und es versagen selbst die holden Musen
Mir den Gesang.

Mich führt kein Weg zum heimathlichen Heerde,
O traurig Loos!
Nimm du mich auf, du heil'ge Mutter Erde,
In deinen Schoos!

Ebd. S. 199

Viel mond. viel dunkel. schwarz und nebelgrau.

Ralf Gnosa

Collage CDF

Viel schnee. ein mönchszug. klöster und ruinen.
Viel mond. viel dunkel. schwarz und nebelgrau.
Auch baumruinen. darum grüne au.
Mondauf- und sonnenuntergänge schienen

Nicht hell doch hell genug sodaß dank ihnen
Man etwas sieht. und es teilt unsre schau
Uns abgewandt ein rücken sehr genau
Und manchmal zwei. nur perspektivmaschinen?

Nur schwarz und grau und grün? nein auch goldbraun
Gar rot und violett sind auch zu schaun
Und wasser – blau – und felsformationen.

Dir lebt gestein so wie die pflanzenwelt.
Ein kreuz. ein winzling. schiffe. weites feld.
Und viele abgelebte illusionen.

Aus: Der Horizont ist bloß eine rhetorische Figur. Zeitgenössische Lyrik zu Caspar David Friedrich. Hrsg. Anne Martin und Dirk Uwe Hansen. Leipzig: Reinecke & Voß, 2024, S. 103

Ups

Tanja ‚Lulu‘ Play Nerd

2.+6.4.2025

u.p.s.
(unendliche postapokalyptische sache)

wir sind doch inzwischen recht anständig geworden vielleicht sogar ein bisschen zu spießig oder zumindestens langweilig oder nur etwas langsam ja langsam sind wir geworden statt leidenschaftlich wir waren so hektisch und hyperaktiv als sei jeder verfluchte tag der allerletzte und einzige an dem man die welt ändern könnte oder gar retten aber nach all den jahrzehnten stellten wir fest dass es egal ist was wir heute tun denn die welt dreht sich um ein schwarzes loch das uns am ende der zeit alle verschlingt und das universum noch kälter und leerer macht als es ohnehin bereits ist das ist traurig und schrecklich und unfassbar unfair gemessen an unserer liebe zum leben aber es ist unvermeidbar ganz gleich ob der panamakanal von der schweiz annektiert wird und grönland zu einer hawaiianischen kolonie mutiert selbst wenn trump als der erste mensch einen fuß auf den mars setzen sollte und putin in tschernobyl einen chinesischen fusionsreaktor betreibt es bleibt wie es ist diese erde hat ein verfallsdatum im angesichte der kosmischen ausgangslage und niemand weiß wirklich warum alles existiert da können die leute an gott glauben oder um gnade winseln wir werden in einer fernen und doch absehbaren zukunft mit allen anderen schwarzen löchern verschmelzen und dann nennt sich das universum nicht mehr universum sondern nur noch ganz einfach ups

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„Lyrikvirus – Engagierte Weltlyrik 2017-2024“ (Gesamtwerkausgabe), als Videobuch @ http://www.weltlyrik.de

Herwegh und Heine

Zum 150. Todestag des Dichters Georg Herwegh ein Zwiegespräch in Gedichten zwischen Heinrich Heine und Georg Herwegh

Herwegh, geboren 1817 in Stuttgart, war einer der bedeutendsten politischen Dichter des Vormärz. Mit seiner radikalen Haltung, seiner kämpferischen Lyrik und seinem Engagement für Freiheit und Demokratie wurde er zu einer Symbolfigur der literarischen Opposition gegen die restaurative Politik des Deutschen Bundes.

Herwegh wurde vor allem durch seine „Gedichte eines Lebendigen“ (1841) bekannt, eine Sammlung aufrührerischer Verse, die schnell verboten, aber heimlich verbreitet wurden und eine enorme Wirkung entfalteten. Seine Verse trafen den Nerv der Zeit und machten ihn zur Stimme einer rebellischen Generation. Die Hoffnung auf einen politischen Wandel führte ihn 1848 an der Spitze einer Freischärlertruppe in die Badische Revolution – ein Unterfangen, das jedoch scheiterte.

Das Verhältnis zwischen Georg Herwegh und Heinrich Heine war von Bewunderung, Rivalität und ideologischen Spannungen geprägt. Herwegh verehrte Heine zunächst als literarisches Vorbild. Heine hingegen begegnete dem jungen Dichter mit Skepsis. Zwar erkannte er Herweghs Talent und nannte ihn halb ironisch eine „Eiserne Lerche“ (in Anspielung auf seine martialisch-politische Lyrik), war jedoch kritisch gegenüber Herweghs Pathos und dessen mangelnder Ironie – etwas, das Heine selbst meisterhaft beherrschte.

Heine war politisch klarsichtiger, skeptischer und viel stärker auf Ambivalenzen bedacht als der idealistisch-republikanisch gesinnte Herwegh. Die beiden standen exemplarisch für zwei unterschiedliche Arten politischer Dichtung im 19. Jahrhundert: Heine als ironisch-doppelbödiger Beobachter, Herwegh als kämpferischer Agitator.

Georg Herweghs Gedicht „Heinrich Heine“ (1844) ist eine Hommage an den berühmten Dichterkollegen – aber auch ein poetischer Spiegel ihrer ambivalenten Beziehung. Herwegh lobt Heine als scharfen, geistreichen Kritiker und feinsinnigen Künstler, doch der Ton ist zugleich distanziert und ironisch.

Heinrich Heine 

(* 13. Dezember 1797 in Düsseldorf; † 17. Februar 1856 in Paris)

An Georg Herwegh

Herwegh, du eiserne Lerche,
Mit klirrendem Jubel steigst du empor
Zum heilgen Sonnenlichte!
Ward wirklich der Winter zu nichte?
Steht wirklich Deutschland im Frühlingsflor?

Herwegh, du eiserne Lerche,
Weil du so himmelhoch dich schwingst,
Hast du die Erde aus dem Gesichte
Verloren – Nur in deinem Gedichte
Lebt jener Lenz den du besingst.

Georg Herwegh 

(* 31. Mai 1817 in Stuttgart; † 7. April 1875 in Lichtental)

Heinrich Heine

1863

I

Mit uns allen geht es ex;
»Trägst du noch so hoch den Scheitel«,
Spricht ein alter Versifex.
»Unter der Sonn ist alles eitel.«

Brutus, Cassius sind ex,
Die es einst so toll getrieben,
Und ich hab an meinen Rex
Keine Briefe mehr geschrieben.

Mit dem stolzen Flug ist's ex,
Aus ist's mit den Sturmgesängen;
An dem Leim des goldnen Drecks
Bleiben jetzt die Spatzen hängen.

Einer nach dem andern schleicht
Sich vom Tanze – die Poeten
Werden klug – man kann so leicht
Einen Fuß sich übertreten.

Pauken und Trompetenschall
Ist verstummt; nur leise, leise
Klingt es noch – der Karneval
Geht zu Ende – glückliche Reise!

Wär's nur mit der vollen Kraft,
Wär's nur mit den vollen Gluten,
Mit der vollen Leidenschaft,
Daß man taucht in Lethes Fluten!

Doch das Leben kühlt uns ab,
Langsam, eh wir drunten liegen,
Daß wir nicht im feuchten Grab
Noch einmal den Schnupfen kriegen.

II

Deine Schuhe drücken dich,
Und du schaust nach höhern Sternen,
Schauest höher noch als ich
In die nebelgrausten Fernen.

Und du sprichst: »Mein Auge hängt
Nicht mehr an der Erde Brüsten,
Höher als die Milchstraß drängt
Mich ein heimatlich Gelüsten.

Von dem Meere stammt sie her,
Und das Meer hat viele Klippen;
Bitter, bitter wie das Meer
Schmecken Aphrodites Lippen.

Hab die Erdenschönheit satt,
Auch die Frau im Marmelsteine,
Ach! die keine Arme hat,
Mir zu helfen!« – Lieber Heine,

Sing und stirb! Unsterblich wacht
Doch die arme Dichterseele;
Mitten durch die Todesnacht
Schluchzt ihr Lied die Philomele.

Sing und stirb! und fluche nicht
Dieser Erde Rosenlauben!
Teurer Dichter, suche nicht
Trost in einem Seehundsglauben!

Sing und stirb! Wir sorgen schon,
Daß kein Atta Troll dir schade;
Schwebe hin, Anakreon,
Zu der Seligen Gestade!

Rasch vorbei am Höllensumpf!
Hör nicht das Koax! und trage
Deine Lieder im Triumph
In des Pluto Dichterwaage!

Grüß den Aristophanes
Dort auf Asphodeloswiesen;
Ich hier oben will indes
Deinen Lorbeer fromm begießen.

Von Stummen und Stammlern

Dieses Gedicht thematisiert die Beziehung von Zentrale und Provinz, von berühmten „starken“, und unberühmten „schwachen“ Künstlern.

Rainer Malkowski

(* 26. Dezember 1939 in Berlin-Tempelhof; † 1. September 2003 in Brannenburg, Bayern)

KUNSTAUSSTELLUNG IN DER PROVINZ

Lächeln ist leicht
in einer Ausstellung wie dieser.

Immer die gleichen
Früchte,
Segel
und unsicheren Deformationen
in den Porträts.

Versuche, zu Wort zu kommen
in Sparkassen und Wandelhallen
– ein Malerleben lang.

Aber die mächtigen Stimmen
allein,
die von den Wänden der großen Museen
zu uns herabsprechen,
sind nichts.

Erst wenn die schwachen
sich mit ihnen mischen,
in der Summe mit allen
Stummen und Stammlern,
wird hörbar,
was gesagt werden kann
vom Leben.

Aus: Poesiealbum 386. Rainer Malkowski. Auswahl von Hans-Dieter Schütt. Wilhelmshorst: Märkischer Verlag, 2014, S. 4

GED… ich …T

Pier Zellin, 18.3.2025

GED... ich ...T
(NONDUALES KÖRPERGEFÜHL)


das gehirn das sein denken fühlt
das denken das zum wort ich neigt
der mund der dieses wort ausspricht
und die ohren die dem mund zuhören
dann die nase der das mächtig stinkt
und die hand die sich die nase zuhält
weil die finger den befehl des gehirns
ausführen das vom denken heiß läuft
was die nerven in alarm versetzt so
dass das gehirn sein denken fühlt

Mehr von Pi Zett:

„DAS SUPERKONKRETE ICH“ (9.4.2017) @ https://lyrikszene.jimdofree.com/forum/pier-zellin

Winter in Wien, 1958

19. und letzter Teil des Zyklus „Die Befreiung der Alchemie von der Metaffer“ von Martina Kieninger

Der Text verhandelt Fragen der menschlichen Identität, der Evolution und der Gewalt im Umgang mit Lebewesen. Die Erwähnung von „Fischform“, „Zwischenentwicklung“, „Polypen“ verweist auf die Evolution und die Entwicklung des menschlichen Körpers aus früheren Lebensformen.

Text 19: Winter in Wien, 1958

und oben
bewohnt Entsetzen das Haus, starrt vom Dach
hochaufgerichtet. Spielt durch der Formen Fünf. formgenormter Fingerzahl,
wie'n Menschenspiel, der Finger heil'ge fünf'ne Fingerzahl, Menschennorm,
durch der urzeitformen Tiere Formen spielt's wie. Starrt vom Dach der Hütte wie die.
Wie die Toten, die Ahnen, glotzen und starren, man bricht ihnen die Beine, die
Knochen, man schneidet ihnen. Es nützt
nichts. Schneide den Toten,
den Ahnen, es nützt nichts, breche die Knochen, die Beine, man schneide.
schneidet ihnen wie. Zur Erbauung im Zoo, den Kopf, trennt man, teilt
durch die Kopfzahl, Anzahl der Finger, Dopplung zweifacher Achssymmetrie
schimmerts wie Mensch, teilt man, spalte den Kopf, durch die Zahl, es
schimmert, Zooerbauung der Menschheit, teilt man der Stufe, der Fischstufe –
Fischform – Zwischen
entwicklung, des vielzellen Polypen Kopf, sich
ausdifferenzierenden Kopf-
abschnitt in zwei zum Magen hinunter, man spalte
den Fisch, was heißt da schon Fisch, gangungenau ist die
Umgangssprache umgangssprachlichen Zoowissens, ungenau spaltet der
Sprachbrauch die Welt
in Tintenfisch, Hydra, Polypen, Süsswasserpolyp vom Kopf bis zum Magen,
so streiten die Köpfe, heißts, die Zweikopfheit zur Erbauung von
Zoobesuch, Pflegbelegschaft und Zooteam, erbaun sich am Zweikampf der Köpfe um
Nahrung des gemeinsam genutzten Magens, die Köpfe, sie streiten. 

ENDE. Der gesamte Zyklus hier.

Kleine Gedichtmaschine zum 100. Geburtstag von Emmett Williams

Emmett Williams wäre heute 100 Jahre alt – ein Dichter, Übersetzer und Künstler, dessen Werk die konkrete Poesie und die Fluxus-Bewegung entscheidend mitgeprägt hat. Seine Texte sind formale Experimente, die sich zwischen Spiel und Strenge bewegen: Worte werden permutiert, Bedeutungen verschoben, Muster erzeugt, die sich in immer neuen Konstellationen entfalten.

In seinen permutativen Gedichten arbeitet Williams mit festen syntaktischen Strukturen, die durch minimale Variationen poetische Dynamik entfalten. Das scheinbar Mechanische seiner Konstruktionen entpuppt sich als unerwartet lebendig – mit rhythmischen Verschiebungen, überraschenden Bildern und einer ironischen, manchmal fast kindlichen Freude an der Sprache selbst.

Zu seinem 100. Geburtstag veröffentliche ich eins seiner Gedichte mit deutsche Version – und ein Schreibspiel, das die Prinzipien seiner Textmaschine erlebbar macht. Ein kleines Fest zum 100. Geburtstag – Einladung, Sprache nicht nur zu lesen, sondern sie als Material zu begreifen, das sich stets neu ordnen lässt.

Emmett Williams 

(* 4. April 1925 in Greenville, South Carolina; † 14. Februar 2007 in Berlin)

Gedanke für den Tag: Wie schreibt man eigentlich über die eigene Arbeit? Man kann ihnen nicht erzählen, wie gut man ist, man muß drauf warten, daß sie es dir erzählen.

Aus: Emmett Williams, Schemes & Variations. Stuttgart: edition hansjörg mayer stuttgart london, 1981
Do You Remember  (For Alison Knowles)

when i loved soft pink nights  
and you hated hard blue valleys  
and i kissed mellow red potatoes  
and you loved livid green seagulls  
and i hated soft yellow dewdrops  
and you kissed hard pink oysters  
and i loved mellow blue nights  
and you hated livid red valleys  
and i kissed soft green potatoes  
and you loved hard yellow seagulls  
and i hated mellow pink dewdrops  
and you kissed livid blue oysters  
and i loved soft red nights  
and you hated hard green valleys  
and i kissed mellow yellow potatoes  
and you loved livid pink seagulls  
and i hated soft blue dewdrops  
and you kissed hard red oysters  
and i loved mellow green nights  
and you hated livid yellow valleys  
and i kissed soft pink potatoes  
and you loved hard blue seagulls  
and i hated mellow red dewdrops  
and you kissed livid green oysters
and i loved soft yellow nights
and you hated hard pink valleys  
and i kissed mellow blue potatoes  
and you loved livid red seagulls  
and i hated soft green dewdrops  
and you kissed hard yellow oysters  
and i loved mellow pink nights  
and you hated livid blue valleys  
and i kissed soft red potatoes  
and you loved hard green seagulls  
and i hated mellow yellow dewdrops  
and you kissed livid pink oysters  
and i loved soft blue nights  
and you hated hard red valleys  
and i kissed mellow green potatoes  
and you loved livid yellow seagulls  
and i hated soft pink dewdrops  
and you kissed hard blue oysters  
and i loved mellow red nights  
and you hated livid green valleys  
and i kissed soft yellow potatoes  
and you loved hard pink seagulls  
and i hated mellow blue dewdrops  
and you kissed livid red oysters  
and i loved soft green nights  
and you hated hard yellow valleys  
and i kissed mellow pink potatoes  
and you loved livid blue seagulls  
and i hated soft red dewdrops  
and you kissed hard green oysters  
and i loved mellow yellow nights  
and you hated livid pink valleys  
and i kissed soft blue potatoes  
and you loved hard red seagulls  
and i hated mellow green dewdrops  
and you kissed livid yellow oysters  
and i loved soft pink nights?  

Aus: Concrete Poetry. A World View. Edited and with an introduction by Mary Ellen Solt. Indiana University Press, Bloomington. London. 1970, S. 229 (Mein antiquarisches Exemplar verdanke ich dem Kennedy-Haus Kiel, das das Buch im Mai 1971 anschaffte und zu einem ungenannten Datum „gelöscht“ stempelte.)

Das Gedicht kann in seinen Bann ziehen, bevor man es versteht. Die Gedichtmaschine rattert drauf los. Aber was bedeutet es, bzw. wie übersetzt man es?

Das Bauprinzip ist einfache Arithmetik. Jede Zeile besteht aus sechs Wörtern. Das erste Wort ist ab der zweiten Zeile immer and. Sieht man auf das Zeilenende, bemerkt man schnell, dass 6 Substantive in immer der gleichen Folge wiederkehren. An der 5. Stelle fünf Farben, an der 4. vier Adjektive, an der 3. drei Verben und an der 2. die zwei Pronomen. So sieht das Schema aus:

Fertig ist die Maschine. Jetzt muss man nur noch in jeder Spalte die 6, 5, 4, 3, 2 Wörter und das eine (1) Wort immer in der gleichen Reihenfolge wiederholen bis man in Zeile 61 am Schluss anlangt, der die gleichen Wörter wie am Anfang enthält.

Wie kann man das übersetzen? Ein Problem dieser arithmetischen Struktur ist die Wortstellung in dieser langen Kette von Nebensätzen. Im Englischen steht das Verb an dritter Stelle, also braucht man drei Verben, lieben, hassen, küssen. Im Deutschen muss es an die sechste Stelle, also müsste man 6 Verben wählen. Ich habe mich entschlossen, die möglichst originalen Wörter zu benutzen. Dazu muss ich in Kauf nehmen, dass das mathematische Schema nicht eingehalten werden kann, weil die Dreierreihe nach hinten geschoben werden muss. Wer sich anders entscheidet, müsste die Zahlen für die Positionen anpassen und statt drei nun sechs Verben nehmen. Wenn es jemand versuchen will – gern hier als Kommentar.

Noch eine Frage zur Semantik blieb mir zu klären. Das betraf nur die Spalte mit den Adjektiven. Wie übersetzt man livid? Ich habe Deepl gefragt, die Antwort: lebendig. Rhythmisch schwierig, weil ich im Deutschen dann fünf Silben brauchte. Aber stimmt die Bedeutung? Ich frage das große Handwörterbuch Englisch/Deutsch aus dem VEB Verlag Enzyklopädie Leipzig:

adj bläulich, bleifarben | (Körper) blau (~ marks blaue Flecken m/pl) | (Gesicht) bleich, leichenblaß (with vor); li-vid-i-ty.

Hmm. Eine Farbe kann ich nicht gebrauchen, weil die Farbadjektive ja gleich dahinter stehen. Bleich vielleicht? Ich schlage im COD (Concise Oxford Dictionary) aus Studientagen nach:

livid, a. Of bluish leaden colour; discoloured as by bruise; ll (colloq.) furiously angry. Hence or cogn. lividity n., ~ly adv. [f. L lividus]

Wütend: ja, passt gut und ist auch rhythmisch besser. Also los:

Weißt du noch  (Für Alison Knowles)

wie ich sanfte rosa Nächte liebte
und du harte blaue Täler hasstest
und ich milde rote Kartoffeln küsste
und du wütende grüne Möwen liebtest
und ich sanfte gelbe Tautropfen hasste
und du harte rosa Austern küsstest
und ich milde blaue Nächte liebte
und du wütende rote Täler hasstest
und ich sanfte grüne Kartoffeln küsste
und du harte gelbe Möwen liebtest
und ich milde rosa Tautropfen hasste
und du wütende blaue Austern küsstest
und ich sanfte rote Nächte liebte
und du harte grüne Täler hasstest
und ich milde gelbe Kartoffeln küsste
und du wütende rosa Möwen liebtest
und ich sanfte blaue Tautropfen hasste
und du harte rote Austern küsstest
und ich milde grüne Nächte liebte
und du wütende gelbe Täler hasstest
und ich sanfte rosa Kartoffeln küsste
und du harte blaue Möwen liebtest
und ich milde rote Tautropfen hasste
und du wütende grüne Austern küsstest
und ich sanfte gelbe Nächte liebte
und du harte rosa Täler hasstest
und ich milde blaue Kartoffeln küsste
und du wütende rote Möwen liebtest
und ich sanfte grüne Tautropfen hasste
und du harte gelbe Austern küsstest
und ich milde rosa Nächte liebte
und du wütende blaue Täler hasstest
und ich sanfte rote Kartoffeln küsste
und du harte grüne Möwen liebtest
und ich milde gelbe Tautropfen hasste
und du wütende rosa Austern küsstest
und ich sanfte blaue Nächte liebte
und du harte rote Täler hasstest
und ich milde grüne Kartoffeln küsste
und du wütende gelbe Möwen liebtest
und ich sanfte rosa Tautropfen hasste
und du harte blaue Austern küsstest
und ich milde rote Nächte liebte
und du wütende grüne Täler hasstest
und ich sanfte gelbe Kartoffeln küsste
und du harte rosa Möwen liebtest
und ich milde blaue Tautropfen hasste
und du wütende rote Austern küsstest
und ich sanfte grüne Nächte liebte
und du harte gelbe Täler hasstest
und ich milde rosa Kartoffeln küsste
und du wütende blaue Möwen liebtest
und ich sanfte rote Tautropfen hasste
und du harte grüne Austern küsstest
und ich milde gelbe Nächte liebte
und du wütende rosa Täler hasstest
und ich sanfte blaue Kartoffeln küsste
und du harte rote Möwen liebtest
und ich milde grüne Tautropfen hasste
und du wütende gelbe Austern küsstest
und ich sanfte rosa Nächte liebte?

Gedanke für morgen: Wenn du über Kunst schreiben mußt, wie kannst du es vermeiden, so über Kunst zu schreiben, wie die meisten Leute, die über Kunst schreiben, über Kunst schreiben? Ich nehme an, eine Möglichkeit ist die, niemals Kunstzeitschriften zu lesen.

Aus: Emmett Williams, Schemes & Variations. Stuttgart: edition hansjörg mayer stuttgart london, 1981

Und hier wie angekündigt eine Spielanleitung für eigene Emmett-Williams-Gedichtmaschinen.

Es gibt mehrere Möglichkeiten, das als Spiel zu spielen:

Variante 1: Zufall mit Papierstreifen

* Schreibe alle Verben auf einzelne Zettel, mische sie.
* Mache das Gleiche mit Adjektiven, Farben und Nomen.
* Ziehe zufällig aus jeder Kategorie ein Wort und setze es in die Satzstruktur ein.
* Wiederhole den Vorgang, bis ein ganzes Gedicht entsteht.

Variante 2: Kooperatives Schreibspiel

• Eine Person schreibt eine erste Zeile nach dem Schema:

I kissed soft blue feathers

• Die nächste Person schreibt die dazugehörige „Du“-Zeile:

You hated hard yellow tunnels

• Dann geht es reihum weiter, bis ein vollständiges Gedicht entsteht.

Das sorgt für überraschende und absurde Kombinationen, die man selbst nicht vorhersehen kann!

Und hier zwei Dateien zum Selberdichten

KepplerFludd

Teil 18 des Zyklus „Die Befreiung der Alchemie von der Metaffer“ von Martina Kieninger

Wissenschaftliche, alchemistische und mythologische Motive verwirbeln zu einem vielschichtigen Traumgeschehen, in dem Erkenntnis, Zeit und Bewegung wie in einem kosmischen Tanz ineinandergreifen.

Text 18 Gretchentraum Wolfgang Pauli – KeplerFludd

Sie wirds wohl doch nicht tun, die tänzerin, sie wird nicht das klavier ausgießen, das doppelding im spektrum spinklavier am raumrand der als eine nebelspinnerin, die an der kreuzung ihre mondbewegung spinnt und keine sage dazu kennt, nicht wird sie es, so träumt er fort, träumt von einer zeitenspielerin, die aus kannen kenntnis gießt – als doppelpunkt nach kepler alchemie die sonne dort im zahlstrahl über flächen streift überstreifter sonnenbahn im zeigersinn, vom radio zerstrahlt wie eine kanne, die zu boden gießt, aus der erkenntnis fließt, und fort vom kreuzungspunkt im pauliraum von hieroglyphentrinität und zeitentrückt. Er wird doch nicht die zeitentänzerin am sternenort die getreue spinnerin die sich wie haspel spinnt, er wird sie nicht verlassen auf dem kreuzungspunkt im doppelspin der gegenuhr. so gießt er als die hieroglyphenvase fällt, erkenntnis aus, nein, das glaubt er nicht im traum

Wolfgang Pauli (1900–1958) war ein bedeutender Physiker, bekannt für das Pauli-Prinzip in der Quantenmechanik. Er hatte ein starkes Interesse an der Verbindung zwischen Wissenschaft und Mystik und beschäftigte sich intensiv mit C.G. Jungs Archetypenlehre und Alchemie. Sein berühmter „Pauli-Effekt“ – das angebliche Versagen von Experimenten in seiner Nähe – wird oft mit synchronistischen Phänomenen in Verbindung gebracht.

Johannes Kepler (1571–1630) war ein Astronom und Mathematiker, der die Gesetze der Planetenbewegung formulierte und in seiner Harmonices Mundi metaphysische und mathematische Prinzipien vereinte. Er hatte eine stark spekulative Seite und versuchte, Naturwissenschaft mit theologischen und mystischen Vorstellungen zu verbinden.

Robert Fludd (1574–1637) war ein englischer Arzt, Philosoph und Hermetiker, der in der Tradition der Alchemie und Naturmystik stand. Er vertrat eine spekulative Kosmologie, die Elemente der Kabbala, Musiktheorie und Makrokosmos-Mikrokosmos-Analogien enthielt.

Die Verbindung „KeplerFludd“ spielt auf die historische Auseinandersetzung zwischen Kepler und Fludd an: Kepler kritisierte Fludds spekulative, symbolische Naturphilosophie als unwissenschaftlich, während Fludd Keplers rein mathematischen Zugang als unzureichend ansah. In dieser Dichotomie – zwischen exakter Wissenschaft (Kepler, Pauli) und mystischer Spekulation (Fludd, Alchemie) – bewegt sich das Gedicht.

Zum 19. Teil

Verleihung des Huchelpreises

Die in Frankfurt am Main lebende Lyrikerin Olga Martynova wird heute (am 122. Geburtstag von Peter Huchel) in Staufen im Breisgau mit dem Peter-Huchel-Preis 2025 ausgezeichnet. Die Jury würdigt damit ihren ersten auf Deutsch verfassten Gedichtband “Such nach dem Namen des Windes” als eine herausragende Neuerscheinung des Jahres 2024. 

Olga Martynova 

(Ольга Борисовна Мартынова, * 26. Februar 1962)

Wie zeigt man in einem Film Ungeduld:
Sie reißen sich selbst und gegenseitig
alles Gewirkte, Gewebte und Gestrickte vom Leib,
weg mit Hosen und Blusen,
damit sich Wollüste im Nahkampf treffen.

So ungefähr träumte mir neulich von meinem Tod:
weg mit dem Körper, rasch
Fleischgewebe aufknöpfen und ab
in die Abwesenheit von allem,
dorthin, wo es weder dich
noch mich gibt,
dann sind wir wieder am selben Ort.

Aus: Olga Martynova: Such nach dem Namen des Windes. Gedichte. Frankfurt/Main: S. Fischer, 2024, S. 79

Gretchentraum

Teil 17 des Zyklus „Die Befreiung der Alchemie von der Metaffer“ von Martina Kieninger

Der Text spielt mit der psychoanalytischen Sprache und verdreht sie – „Butterbrotsymbol für Koitus“ wird zu „geschmiertem Wortbrot“, womit die Sprache selbst als manipulierend oder überinterpretiert dargestellt wird.

Text 17 Gretchentraum (Revision einer Psychoanalyse von 1920)

am springpudel bachvorbei dort am ort nur fort
analyse: wohl ne erektion?
revision: gedrehtes lied im spinngesing auf tritt im weiten kleid das
frolleinweib und singt von einem traum: sie werde nicht den fischinhalt
den hering ganz aufs brot, sie wird, die sängerin, die doch das gretchen
singt, sich nicht den ganzen fisch das räucherfischgesamt, geräuchert
rauch wie schall und ruch sie wird doch nicht den ruchfisch, den
verruchten fisch, den herrn, den hering sich aufs brot tun, begriffsfisch,
ein geschmiertes brot mit hering von der insel rügen. war so
fett und weiss und schön. die gräten gingen leicht heraus,
nicht einzeln sondern
ganz wie eine rippe. räucherfisch aufs brot, das glaubt sie nicht,
daß eine sängerin: gretchensängerin: gesangsmargret, daß die sich einen
fisch, aus dem die gräten rausgehn, zur grätengänze die ganzgräte, daß die
sängerin, die auftritt dort, im lampenlicht, im weiten kleid, sie kanns nicht
glauben, sagt die schwester.
analyse: butterbrotsymbol für koitus,
revision: schmierbrot mit geschmiertem
räucherfisch, räucherherr, gerüchtefisch, ein rügenkind im
traum: den inhalt eines heringskinds wird sie mit butterbrot
herunterschlucken.
so die schwester, nein, sie glaube nicht, dass eine sängerin, die doch das
gretchen singt,
so viel aufs butterbrote nimmt.
revision: geschmiertes wortbrot,
des brotbrauch fischbelag brotgebrauch wie ein
geschlucktes wort und fort der
traum: im heidenebel habe sich die form, schiffsrumpfform geschnitten und
bewegt. ein kind stand dort – pause – auf der heide – pause – fort
analyse: phallusgleichung fisch und kindsymbol
revision: lieder von der heide, heidelied. ihr ist das heidekind genommen
– gnadenzustand ungetauft. des heideknaben rumpf herausgeschnitten: lag
waagrecht und ward wieder aufgestellt.
analyse: erektion.
traum: bachvorbei dort am heideort nur fort
revision: abort 

Zum 18. Teil