
Adolf Meschendörfer
(* 8. Mai 1877 in Kronstadt, Österreich-Ungarn, heute Rumänien; † 4. Juli 1963 ebenda)
Der Komet
Allnächtlich lodern die ewigen Feuer
Wie goldene Bäume strotzend empor.
Sie brüllen und seufzen, geistern und lachen,
Und nie vernimmt sie ein sterbliches Ohr.
Es rütteln an ihren silbernen Ketten
Der Löwe, der Stier und der Große Bär,
Aus brodelnden Welten fährt zischend ein Tropfen
Hinunter in das schwarzgähnende Meer.
Da hebt erst der Mensch die schweren Lider,
Der jochgekrümmte Nacken wird frei,
Nun staunt er, nun lallt er verzückte Worte
Und weint und erkennt seine Sklaverei:
„Du seliger Bote aus seligen Höhen,
Du sahst an endlosen Tafeln sie dort,
Die schimmernden, funkelnden, goldenen Paare
Und hörtest des Lebens unsterbliches Wort.
Du glühender Künder himmlischer Feste,
Du sahst und hörtest die Ewigkeit!
Du Heiland, zerbrich unsere Todesgrüfte!
Du flammender Deuter von Gott, Raum und Zeit!"
Aus: „In Dornbüschen hat Zeit sich schwer verfangen“ : Expressionismus in den deutschsprachigen Literaturen Rumäniens ; eine Anthologie / Michael Markel (Hg.). Regensburg : Pustet, 2015, S. 14.
Irmgard Senf ist am 30. Mai im Alter von 90 Jahren gestorben. Heute um 14 Uhr wird sie auf dem Alten Friedhof in Saßnitz beigesetzt. In ihrem letzten, bislang unveröffentlichten Gedichtband — Anfang dieses Jahres im Manuskript abgeschlossen — verbinden sich gesellschaftskritische, politische, naturlyrische, persönliche, erotische und meditative Texte. Aus diesem Nachlass veröffentlichen wir heute „Die Massaker der Erde“.
Die Massaker der Erde
Wie zwingen wir Schuldige in die Verantwortung
wie verhindern wir
wer wirft in den Bann
wer schürt hinab Jahrhunderte
wer quält Nachgeborene
wer belügt
wer bedroht gewissenlos
wer befiehlt Gewalt
wer verübt erneut Verbrechen
wer vergrößert die Kraft der Waffen
wer produziert
wer verdient am Tod
wie entzerren wir den gordischen Knoten
wie verhindern wir
wer nutzt Unwahrheit Krieg zu beginnen
wer glaubt nicht gerichtet zu werden
wer stiftet zum Hass eine Mehrheit an
wer dient wem
Wer sind sie weise Menschen der Erde
wer vermag Leben zu retten
wer bin ich
wer bist du
wie sind wir Teil
in der Kraft eines Friedens-Kanons
wir in der Trauer des Erinnerns
Róža Domašcyna
Dieses haus
für Kito Lorenc
ist das haus eines dichters
man erkennt es daran
dass der rosenbusch über das hausdach guckt
und daran
dass die tomatenpflanzen in den giebeltöpfen
so hoch wachsen dass der dichter nur die hand
aus dem fenster zu strecken braucht
um die paradeisäpfel zu ernten
an der sonnenseite unter dem unsagbar
blühenden eingriffeligen weißdorn
steht ein tisch mit bank und stühlen
darunter hat der hund seinen platz
auf der schattenseite am türpfosten
triumphiert die brennnessel über den gast
der sich zu bücken hat wenn er ins haus will
ich pflanze sagt der dichter wie beiläufig
und sieht kurz vom schreibtisch auf
weiter müssen die setzlinge sich selber kümmern
Aus: Róža Domašcyna, stimmen aus der unterbühne. gedichte. Leipzig: poetenladen, 2020, S. 59
Mariola Brillowska
AUS GOLD MODELLIERT DIE NACHT
Ich zeichne mich
Mit geraden Strichen
Meine Nase ist der Hauseingang
Meine Augen sind Fenster
Mein Gesicht ist eine Mauer
Meine Stirn ist der Teppich
Meine Ohren sind Labyrinthe
Mein Mund ist ein Tunnel
Meine Haare sind Wälder
Meine Schulter ist die Kirche
Mein Bauch ist die Wüste
Meine Brüste sind die Berge
Mein Becken ist der Busch
Mein Rücken ist der Ozean
Meine Beine sind Schlangen
Meine Füße sind Kinder
Ich habe keine Arme
Ich habe keine Finger
Ich habe keinen Hals
Ich habe keine Zunge
Ich habe Hautauschlag
Ich habe Schüttelfrost
Ich habe Tabletten
Ich habe Schmerzen
Im Kopf im Magen im Knie
Bin ich die Gipskruste
Bin ich des Monsters Keks
Esse mich heute genieße
Den Geschmack der Orange innen
Um zwölf Uhr Nachts
Fährt der letzte Bus
Zum Schloss im Mondschein
Am Tor trinke ich aus dem Brunnen
Die Strahlen des Abschieds
Aus Gold modelliert die Nacht
Zahnräder Gebisse und Schienen
Wohin ich verschwinde
Dort ist mein Horizont
Mein Licht mein Zuhause mein Traum
Mói swiat mój dom mój sen
Aus: Mariola Brillowska, An den Mechanischen Präsidenten. Berlin: SuKuLTuR, 2015 (Schöner Lesen 143), S. 14f
Mariola Brillowska emigrierte 1981 aus Polen nach Deutschland. Sie ist Filmregisseurin, Performancekünstlerin und Autorin.
Heute vor 25 Jahren ist Ernst Jandl gestorben. Im Sommer gibt es dann noch den 100. Geburtstag. Heute habe ich ein relativ langes Gedicht ausgewählt (das womöglich aktuell ist) und im Anschluss, bei Bedarf, ein wirklich kurzes und im Wortsinn einfaches. (Wobei mir meine lange Erfahrung im Reden über Gedichte sagt, dass manche im Zweifel das lange Gedicht eher bereit sind zu verstehen als das einfache und kurze. Wahrscheinlich weil sie eher gelernt haben, über Gedichte interpretierend zu reden als den einfachen Anweisungen eines Gedichts zu folgen. Weil es so einfach ist, gebe ich eine kurze Handreichung.) Beide Gedichte wurden erstmals etwa 16 Jahre nach dem Tod des Autors gedruckt.
Ernst Jandl
(* 1. August 1925 in Wien; † 9. Juni 2000 ebenda)
entwicklung staatsbürgerlichen denkens
in 4 phasen mit anmerkungen
erste phase: kindheit
wie klein sind wir.
wie groß seid ihr dagegen.
ihr seid die herrn.
wir haben euch gern, wenn ihr uns zum photographieren
auf den arm nehmt, weil ihr dann ein freundliches gesicht macht.
(aber im unterbewußten bereits:
1, 2, 3, 4, 5, 6, 7 –
keiner noch ist klein geblieben.)
zweite phase: jugend
wir sind im wachsen.
größer seid ihr ja noch, aber:
wartet nur, balde
kommen wir (an die reihe, ist zu ergänzen,
wobei sich der einfluß allgemeinbildenden pädagogischen mühens in
der klassischen formulierung, die sich eben in dieser auslassung stark
pointiert verdeutlicht, verdeutlicht.)
dritte phase: reife
wie vernünftig sind wir.
wie vertrottelt seid ihr.
das volk hat immer recht.
ihr könnt uns gern haben.
(starkes erwachen demokratischer gefühle äußert sich in kraftaus-
drücken, attentatsträumen sowie in aggressionsakten – mit vorliebe
gegen ehepartner –, die als demokratische ersatzhandlungen zu werten
sind.)
vierte phase: ueberreife
wie alt sind wir?
wie alt seid ihr?
und da wollt ihr die herren spielen?
grünschnäbel!
(in ländern, deren öffentlicher apparat sich fast ausschließlich aus
angehörigen der alterskreise 4 und 5 rekrutiert, muß wegen allfälligen
sympathisierens gleichaltrig ueberreifer die darstellung der vierten
phase mit vorbehalt aufgenommen werden.)
(die darstellung der) fünfte(n) phase (mußte leider unterbleiben, da die
angehörigen dieses alterskreises wegen zeitmangels derzeit nicht in der
lage sind, eine meinung zu äußern.)
(anmerkung: unter »herren« sind die aus allgemeinen, freien und
geheimen wahlen hervorgegangenen volksvertreter zu verstehen.)
Aus: Ernst Jandl, werke in 6 bänden, herausgegeben von Klaus Siblewski. werke 1. München: Luchterhand, 2016, S. 520f
simple maths
hhhhhhhh eight h eighth 8th 8 th thththththththth
Aus: Ebd. S. 560. – Das erste Gedicht ist vom 13.7.52, das zweite vom 1.12.64.
Handreichung: Nehmen Sie die Überschrift ernst. Sie ist wie das ganze Gedicht auf Englisch: weil es nur auf Englisch funktioniert. Zählen Sie die „h“ am Anfang der Zeile; dann finden Sie, dass die Antwort schon im Gedicht steht, und die Gedichtmaschine funktioniert ganz einfach: aus einem Wort ergibt sich immer folgerichtig das nächste, bis die 8 „h“ in 8 „th“ umgewandelt sind. Das Gedicht bedeutet nicht – es tut. Aber das Gedicht ist ja der Vorgang. (Das Zitat ist von unvermuteter Stelle, Herrn Oskar Loerke.) Man kann es deshalb auch konkrete Poesie nennen. Keinerlei abstrakte Bedeutung oder Nichtbedeutung impliziert, nur der konkrete Vorgang des Gedichts.
(Ein befreundeter Autor meint, die konkrete Poesie sei in Wirklichkeit abstrakte Poesie, nun ja. Die Welt ist groß genug, dass wir beide in ihr Unrecht haben können. Sagte wieder ein anderer, aber er sagte es mit scharfem „ß“.)
Zum Pfingsfest mal etwas Klassisches, Allbekanntes. Der berühmte Anfang des Goetheschen Reineke Fuchs.
Erster Gesang
Pfingsten, das liebliche Fest, war gekommen! es grünten und blühten
Feld und Wald; auf Hügeln und Höhn, in Büschen und Hecken
Übten ein fröhliches Lied die neuermunterten Vögel;
Jede Wiese sproßte von Blumen in duftenden Gründen,
Festlich heiter glänzte der Himmel und farbig die Erde.
Nobel, der König, versammelt den Hof; und seine Vasallen
Eilen gerufen herbei mit großem Gepränge; da kommen
Viele stolze Gesellen von allen Seiten und Enden,
Lütke, der Kranich, und Markart, der Häher, und alle die Besten.
Denn der König gedenkt mit allen seinen Baronen
Hof zu halten in Feier und Pracht; er läßt sie berufen
Alle miteinander, so gut die Großen als Kleinen.
Niemand sollte fehlen! und dennoch fehlte der Eine,
Reineke Fuchs, der Schelm! der viel begangenen Frevels
Halben des Hofs sich enthielt. So scheuet das böse Gewissen
Licht und Tag, es scheute der Fuchs die versammelten Herren.
Alle hatten zu klagen, er hatte sie alle beleidigt,
Und nur Grimbart, den Dachs, den Sohn des Bruders, verschont' er.
Hier die Parallelstelle aus dem originalen niederdeutschen Reynke de Vos von 1498. Vielleicht eine kleine Übung im Niederdeutschen zum Festtag.
1 ID gheschach vp eynen pynxstedach,
2 Datmen de wolde vnde velde sach
3 Grone staen myt loff vnde gras,
4 Vnde mannich fogel vrolich was
5 Myt sange in haghen vnde vp bomen;
6 De krüde sproten vnde de blomen,
7 De wol röken hir vnde dar;
8 De dach was schone, dat weder klar.
9 Nobel, de konnynck van allen deren,
10 Held hoff vnde leet den vthkreyeren
11 Syn lant dorch ouer al.
12 Dar quemen vele heren myt grotem schal,
13 Ok quemen to houe vele stolter ghesellen,
14 De men nicht alle konde tellen:
15 Lütke de kron vnde Marquart de hegger;
16 Ja, desse weren dar alder degger
17 (Wente de konnynck myt synen heren
18 Mende to holden hoff myt eren,
19 Myt vrouden vnde myt grotem loue
20 Vnde hadde vorbodet dar to houe
21 Alle de dere groet vnde kleyne)
22 Sunder Reynken den vos alleyne;
23 He hadde in den hoff so vele myßdan,
24 Dat he dar nicht endorste komen noch gan.
⸻
1 pynxstedach – ist natürlich Pfingsttag. Ich wiederhole es nur, weil ich das Wort in dieser Schreibung schön finde. Es gibt bis heute keine verbindliche Schreibweise des Niederdeutschen. Wer schreibt, musste sich etwas ausdenken. Es war an einem Pfingsttag.
2 Datmen – dass man (die Wälder und Felder sah)
3 grone – grün (stehen mit Laub und Gras)
4 und mancher Vogel war fröhlich
5 haghen – Hecken. Mit Gesang in den Hecken und auf Bäumen.
6 krüde – Kräuter. Die Kräuter und die Blumen sprossen.
7 röken – rochen. Die wohl (gut) dufteten hier und da.
8 weder – Wetter. Der tag war schön, das Wetter klar.
9 deren – Tieren. Nobel, der König aller Tiere.
10 vthkreyeren – aúsrufen. Er hielt Hof und ließ den Ausrufer ausrufen. Beachte den Reim.
11 durch sein Land überall.
12 schal – Schall (im Sinne: mit großem Gepränge, Pracht). Da kamen viele Herren mit großem Getös.
13 Ok – auch. Auch kamen zum Hof viele stolze Gesellen.
14 tellen – zählen. Die man nicht alle zählen konnte.
15 kron – Kranich, hegger – Häher. Lütke der Kranich und Markart der Häher.
16 degger – tapfer, von deger – tüchtig, stark, tapfer. Diese waren dort von allen die Tapfersten.
17 Wennte – denn, weil. Denn der König mit seinen Herren.
18 Mende – meinte, beabsichtigte (Hof zu halten in Ehren)
19 Mit Freuden und mit großem Lobe.
20 vorbodet – verboten, aber auch, hier: geboten. Und hatte eingeladen zu Hofe.
21 Alle die Tiere groß und klein.
22 Sunder – außer. Außer Reinke, den Fuchs alleine.
23 myßdan – Substantiv Misstaten, oder Verb: missgetan. Der hatte am Hof soviel missgetan.
24 endorste – getraute (erdreistete). Dass er sich nicht traute hinzukommen oder gehen.
Eine Übertragung in heutiges Deutsch:
Es geschah an einem Pfingsttag,
dass man die Wälder und Felder sah
grün stehen, mit Laub und Gras,
und mancher Vogel war fröhlich
und sang in den Hecken und auf den Bäumen.
Die Kräuter sprossen, und die Blumen
verströmten ihren Duft hier und da.
Der Tag war schön, das Wetter klar.
Nobel, der König aller Tiere,
hielt Hof und ließ im ganzen Land
seinen Ausrufer aussenden.
Da kamen viele Herren mit großem Gefolge;
auch kamen zum Hof viele stattliche Gesellen,
die man gar nicht alle zählen konnte:
Lütke der Kranich und Marquart der Häher —
ja, diese waren die tapfersten unter ihnen.
(Denn der König wollte mit seinen Herren
einen Hof in Ehren halten,
mit Freude und großem Lob,
und hatte alle Tiere, große und kleine,
zum Hof eingeladen) —
nur Reineke, den Fuchs, nicht.
Er hatte am Hof so viele Vergehen begangen,
dass er es nicht wagte, dorthin zu kommen oder zu gehen.
Lutz Seiler
prometheus als kind
wie schimmerte das igelit
am tisch, wenn träumend
eine knabenhand darüber strich?
schon beim frühstück
(blaues thermos, muckefuck, mehrfruchtmarmelade)
lauschte ich den rechenzentren. von dort, von lochkarte
zu lochkarte gesprochen, summte leise das gebot: »ver-
giss
nicht den ofen, die konzentration
vermeide leichtsinnsfehler, vergiss
nicht die glut, wenn sie noch gelb
oder gelbfarben ist, vergiss
die asche nicht, lutz, vergiss das feuer
nicht, den aschekübel, vergiss nicht
die ganz lieben grüße & auch
nicht den erfolgreichen tag!«
dazu das radio, bayern 3, in the ghetto
& zwei brötchenhälften, vorgeschmiert
bis ich weinen musste
Aus: Lutz Seiler, schrift für blinde riesen. gedichte. Berlin: Suhrkamp, 2021
Am 4. April 2009 starb der Kieler Dichter Klavki, er wurde nur 36 Jahre alt. Lyrikzeitung bringt heute ein Gedicht von ihm über den Tod.
Klavki
(4. Oktober 1972 – 4. April 2009)
Gast
Der Tod hat ein Datum.
Er zeichnet zierliche
Risse und Rillen
in unser Fleisch,
zählt stolz jede Sekunde
rückwärts in uns,
atmet kaum hörbar
jede Stunde aus:
Malt fließende Bilder
auf Spiegel -
flüstert leise „leben",
stammelt „sterbensterbensterben"
und wiederholt immer wieder
„Noch-sein".
Wir sind ihm nie zu klein
zu arm, zu traurig
oder gar zu jung.
Er ist der Zweite
in uns.
Wir sind nie allein genug.
Vielleicht sind WIR
auch nur
SEIN Gast ...
Der Tod hat ein Datum.
Das Leben nicht.
Aus: Klavki, Delirium. Lyrik. 2. Aufl. 2012, S. 9
Heute jährt sich der Geburtstag von Stanislav Kostka Neumann zum 150. Mal. Neumann war ein bedeutender tschechischer Dichter, Publizist und politischer Aktivist. Er war eine zentrale Figur der tschechischen Avantgarde und Anführer anarchistischer Gruppierungen um František Gellner, Fráňa Šrámek und Karel Toman. Er verwendete mindestens 25 Pseudonyme, darunter „Antikrist“, „Brutus“ und „Civis Bohemicus“.
Stanislav Kostka Neumann
(* 5. Juni 1875 in Prag; † 28. Juni 1947 ebenda)
Lied von 1915
Auf dem Kasernenhof
hilflos in Szeged
muß wie die Luft das Grau'n
an dem Platanenbaum,
Ungarns Luft, der Soldat, Muskot,
schlucken, der Tscheche.
In seiner Qual versucht
mit dem gebundenen
Leib am Platanenstamm
einmal die Krümmung der Mann
endlos hinunter zum Wasserkrug,
eine Sekunde.
Wie eine Blume hängt,
welk und geschändet,
unterm Platanenlaub
er auf die Brust das Haupt.
Lange Sekunden, die Stunde denkt
nie an ein Ende.
Ratlos die Augen irrn,
sehen verschwommen
durch das Platanengrün,
durch das verdammte Grün
Mauern und Fenster und Leute flirrn.
Glut haucht die Sonne.
Strudelnd verschluckt ein Loch
jetzt die Gestalten.
An der Platane, fahl,
lächelt mit einem Mal
tödlich erschöpft der Soldat, nur noch
vom Stamm gehalten.
Eine Sekunde weht
aus dem Geschick ihn
an der Platane dort
zu der Kastanie, fort
zu seiner Mutter; wie abgemäht
er in den Schoß sinkt.
Glück, nur ein Augenblick,
ehe sie kamen,
eh ihn das Wasser traf,
weckte noch aus dem Schlaf.
Gleichmütig zog ihn zurück der Strick
an die Platane.
Deutsch von Elke Erb, aus: Ludvík Kundera, Eduard Schreiber (Hg.): Süß ist es zu leben. Tschechische Dichtung von den Anfängen bis 1920. München: Deutsche Verlags-Anstalt, 2006, S. 386f
Das Gedicht ist ein frühes Antikriegsgedicht, das in festem Strophenbau unter Verwendung antiker Versfüße – von Elke Erb versgetreu nachgedichtet – seinen bösen Inhalt entwickelt. Ein tschechischer Soldat der österreichisch-ungarischen Armee hängt an einer Platane, ist es Selbstmord? Oder eine sadistische Bestrafung? Hängt er am Strick an der Platane oder ist er zur Bestrafung daran gebunden? Ich vermute das erstere. Leider kann ich nicht Tschechisch, aber ich habe zumindest die Silbenzahl überprüft. Die zweite und sechste Zeile jeder Strophe verwenden den Adoneus, der in der sapphischen Odenstrophe den vierten Vers bildet: Daktylus plus Trochäus oder Spondeus: XxxXX. Ich lese das Gedicht als Beschreibung eines Selbstmordes oder Mordes, der Soldat hängt an der Platane, denkt noch einmal an die Mutter und wird dann von der Realität, vom Strick eingeholt. Im Adoneus! (Der vorige Satz ist selbst einer, ohne dass das geplant war).

Ralf Thenior
(* 4. Juni 1945 in Bad Kudowa, Schlesien)
Alles Gute, Alter
Ich werde jetzt erstmal Geburtstag haben,
ich werde ganz ruhig bleiben
und nichts machen
und einfach Geburtstag haben,
ich werde mir die Hand schütteln,
mir auf die Schulter klopfen,
herzlichen Glückwunsch, alter Junge,
alles Gute und so weiter,
halt die Ohren steif,
werde ich mir
zum Geburtstag sagen,
nachts um halb drei
auf dem Balkon
mit der elften Bierflasche
unter grauem Morgenhimmel.
Aus: Ralf Thenior: Sprechmaschine Pechmarie. Neue Gedichte. Stuttgart: Klett-Cotta, 1979, S. 15
Andra Schwarz
In der luft die viel zu schweren vögel über den östlichen gebieten
entlang der frontlinien von uns ungesehen falterhafte schwärme
sturzflüge das zittern in den böden als der frost vorüberzieht
sich einfrisst in die erde an den rändern das schwergerät
der winter ist zurück und in den alten das längst verdrängte bild
pulsiert das herzstück im zangengriff am saum blutende gerinnsel
spuren in mir nach wenn es still wird im bitteren vorfrühling
bilden sich junge knospen zurück sterben keimlinge im laub
überall staub ein schattenriss der uns nicht mehr verlässt
während die unruhe wächst verschlingen wir uns selbst
Aus: Andra Schwarz: Meteor. Berlin: SUKULTUR, 2023 (Schöner Lesen 204)
Andra Schwarz, geboren 1982 in der Oberlausitz
HEL (Herbert Laschet Toussaint)
(* 1957 in Eupen, Belgien, lebt in Berlin)
Aus: ANDANTE
Keine post im kasten
keiner kommt auf besuch
Telefon wird mir zu teuer.
Bleibt das geliehene buch
Das ging schnell mit vergessen
Menschheitsdämmerung dahin
Halten die freunde? hält der kurs?
wer zahlt den statusgewinn?
Damals waren sie geil drauf:
Haste 'n fanzine? kuck!
heute beschwert sich eine
über nen textabdruck
Wo sind die schreiber geblieben?
sie wollten überall rein
Sie gingen mit dir ins bett dafür
im statusirresein
Ich dachte es ständ unsre sache
im saft auf jahre hinaus
Ich sag euch es is 'n scheißdreck
Das konto blutet aus
Deal überzeichneter aktien
mir wird das langsam zu bunt
Ich bin nich euer habitushahn
und nicht euer statushund
Ich hab mein habitat und
ich brauch keinen habitus
Ich hab meinen biorhythmus
Der könig schläft noch und schluß
Willste wat? dann geh suchen
Du bist der bittsteller! klar?
brauchste mich? dann stell dich an
ran an die statusbar
Ich hatte ne alte liebe
mit kochtopp in sanftem grau
betrog sie mit ner jungen
ner businessklassefrau
Die betrog mich wieder
mit einem der war zwar alt
aber sein geld war faltenlos
der nahm sie mit statusgewalt
Sie machte im bett auf model
und tat wer weiß wie als ob
Ich sagte: haste das nötig
das hier is nich dein job
Sie sagte: reine gewohnheit
ich bin eben well defined
Sie brach in die knie und ich hielt sie im arm
und dann hat sie vor status geweint
Aus: HEL: NA55PO3M. Berlin: SuKuLTuR, 2. Aufl. 2005 (1. 2003) (Schöner Lesen 015)
Eugene Ostashevsky
Auf tritt Morris Imposternak, verfolgt von Ironien, 11.
Nachdem die Poesie aufgehört hatte
Und die Welt nur noch aus unbelebten Strukturen bestand
Ein unfertiges weil unterfinanziertes Gebäude
Mitten im Müll und den Stimmen
Von Narren und Mördern auf der Jagd nach Gott
(Heißt zu wissen, wie man liebt
Auch zu wissen, wie man aufhört?)
Entschloss sich Morris Imposternak
Weil ihm Sprache
Als Ausdruck von Machtkämpfen und dem zivilen
Kannibalismus des Sozialen
Nichts mehr bedeutete
Seine Arbeit an der Dichtung
Ebenfalls einzustellen
Wie schade! Wär vielleicht ein annehmbares Gedicht geworden ...
Doch was hätte es sagen können? Man muss schon ein Profi
sein, um eine wahre Aussage zu treffen. Ach, und ein
Gedicht zu schreiben ohne wahre Aussage ist, als würden
die Arme in Schwimmbewegungen kreisen, während die
Füße noch am Fliesenboden des Beckens kleben!
Aus: Auf tritt Morris Imposternak, verfolgt von Ironien. Aus dem Amerikanischen von Uljana Wolf. Berlin: SuKuLTuR, 2016, 2. Aufl., 1. 2010 (Schöner lesen 94), S. 20
Uwe Kolbe
(* 17. Oktober 1957 in Ost-Berlin)
Mein Märchen
Mein Märchen, du bist in Wirklichkeit
ganz dieser Welt, gehst wach die Stufen
hier neben mir, schaust wie nur wir
ins freundliche Alter hinüber, die Kunst,
denn das ist, einander erforschend
nicht mehr – wie bekannt wir uns sind –,
dein Garten, dein Tagwerk, begriff ich
in eins, leise sagst du, die Kunst, sicher
ist dieses uralte umfriedete Land, dein
von alters, wir wohnen in deinem Land,
von deiner Hand ist gesegnet das Blühen,
die Kunst, wir sitzen in deinem Garten
und sagen, die Kunst ist vor allem das,
was Lebende oft voreinander verhehlen,
den Weg zueinander nicht finden, aber
das ist ein Zitat aus einer, aus Spätzeit,
beim zweiten Lesen der Bücher,
kurz hebst du den Kopf, verabredest dich
auf einen Besuch bei den alten Meistern,
den frischeren Farben und Formen,
der Freundschaft der Toten gewiss
in dem Gewebe des Lebens, der Freude
am Märchen, das ist an der Wirklichkeit.
Aus: Uwe Kolbe: Imago. Gedichte. Frankfurt/Main: S. Fischer, 2020
Am 30. Mai 1876 unterzeichnete Zar Alexander II. im deutschen Kurort Bad Ems den sogenannten Emser Erlass – ein Dokument, das die ukrainische Sprache aus dem öffentlichen Raum verbannen sollte. Ukrainische Bücher durften fortan weder gedruckt noch importiert werden, Lieder nicht mit Noten veröffentlicht, Theaterstücke nicht mehr aufgeführt werden. Die Absicht war klar: Ukrainisch sollte nicht mehr sichtbar, hörbar, denkbar sein – ein Werkzeug imperialer Assimilation. Im Russischen Reich sollte Russisch die alleinige Kultursprache sein. Erst nach der Revolution von 1905 wurde der Erlass teilweise aufgehoben.
Aber die ukrainische Literatur konnte man nicht mehr ungeschehen machen. Und es war gerade die Lyrik, die das sprachliche Überleben sicherte. Darüber spricht Juri Andruchowytsch in einem kurzen Vorwort zu der Sammlung „Der Klang von Sonnenklarinetten“, aus der ich heute ein Gedicht von Pawlo Tytschyna ausgesucht habe. Das Gedicht entstand 1920, das Thema ist bis heute brennend aktuell.
Antistrophe
Flugzeuge und die Wunder der Technik – wozu
dienen sie, wenn die Menschen einander nicht
ins Gesicht schauen?
Werft die Erzürnten nicht ins Gefängnis; sie sind
sich selber Gefängnis.
Universitäten, Museen, Bibliotheken
können nicht so viel geben wie
braune,
graue,
blaue Augen ...
1920
Aus dem Ukrainischen von Adrian Wanner, aus: Der Klang von Sonnenklarinetten. Drei Lyriker der ukrainischen Moderne. Zürich: Pano Verlag, 2008, S. 47
Антистрофа
Аероплани й усе довершенство техніки – до
чого це, коли люди одне одному в вічі не
дивляться?
Не хватайте озлоблених у тюрми: вони самі
собі тюрма.
Університет, музеї й бібліотеки не дадуть того,
що можуть дати
карі,
сірі,
блакитні ...
Ebd. S. 46
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