Veröffentlicht am 27. Juli 2025 von lyrikzeitung
253 Wörter, 1 Minute Lesezeit
Tristan Tzara
(* 4. Apriljul. / 16. April 1896greg. in Moinești, Rumänien; † 24. Dezember 1963 in Paris)
MAMY, DU VERSTEHST DAS ALLES NICHT/
(Variante)
Mamy, du verstehst das alles nicht
Ich singe von der Seele, die nicht existiert
Deine Brüste brauchen keinen Blumentopf
Dein Herz ist ein Taschentuch
Und hat Stacheln – Himbeere mit Milchgeschmack
Durch die Bluse über reifen Pfirsichen
So komm schon, hab mich lieb
Meine Braut ist gestorben
Frag mich, wer das gewesen ist
Und dann sag mir ins Ohr, wann genau du gehst
Unbedingt will ich dir morgen
Bei einem Juden ein Paar Ohrringe besorgen
Wie ein Blumenbeet bist du mir in die
Seele geweht, wo lauter Eisendinge stehn
Mamy, du verstehst das alles nicht!
Aber in einem Gedicht zu sein ist schön
Aus dem Rumänischen von Oskar Pastior, aus: Tristan Tzara, Die frühen Gedichte. Übersetzt aus dem Rumänischen und herausgegeben von Oskar Pastior. München: text + kritik, 1984 (Frühe Texte der Moderne), S. 45 (Rumänischer Originaltitel: Mamie, n-o sǎ ințelegi (variantǎ), Erstdruck 1971)
Mamie, n-o să înțelegi
Mamie, n-o să înțelegi
Eu cânt sufletul care nu există
Sânii tăi sunt flori fără ghiveci
Inima ta batistă
Și înțeapă zmeură cu gust de lapte
Bluza ce acoperă piersici coapte
Uite, mângâie-mă, leagănă-mă
Mi-a murit logodnica
Întreabă-mă cine era
Pe urmă spune-mi încet, precis când pleci
O să-ți cumpăr necondiționat cercei
De la un bijutier ovrei
Ai venit grădiniță de flori în
Sufletul meu, interior de fierărie
Mamie, n-o să înțelegi!
Dar e lucru frumos când ești într-o poezie
https://poetii-nostri.ro/tristan-tzara-mamie-n-o-sa-intelegi-poezie-id-35140/
Die unterschiedliche Schreibweise des rumänischen Titels entspricht den angegebenen Quellen.
Veröffentlicht am 26. Juli 2025 von lyrikzeitung
595 Wörter, 3 Minuten Lesezeit
Ich konnte in den beiden letzten Tagen den literarischen Nachlass von Irmgard Senf durchsehen, der Gartenarchitektin und Autorin aus Sassnitz, die im Mai im Alter von 90 Jahren gestorben ist (1.5.1935 – 30.5.2025). Bis zuletzt rege und neugierig, neuste Bücher verfolgend, sass sie an zwei literarischen Projekten, einem neuen Gedichtband und autobiografischer Prosa. Ein Schreibtisch im Arbeitszimmer und einer im Wohnzimmer, beide übervoll mit wohl Hunderten Manuskripten und Notizzetteln, Büchern, Zeitungsausschnitten. Auf dem einen Tisch in der Mitte aufgeschlagen das „Poesiealbum 17 – Friedrich Hölderlin“ (1969) mit dem Gedicht „Abendphantasie“.

Ich durfte ein paar Bücher aus ihrer hervorragenden Bibliothek mitnehmen, darunter das hier links neben Hölderlin liegende von Ezra Pound, ebenfalls 1969, aus dem ich das heutige Gedicht auswähle.
Ein bemerkenswertes Buch. Auf dem Einband steht:
Ezra Pound:
Der Revolution
ins Lesebuch.
«So wurde das
deutsche Hochschul-
und Universitäts-
wesen … vom Ziel der
Wahrheitsfindung…
abgelenkt und in
einen Mechanismus
verwandelt …“
Ezra Pound (1932)
Die Arche
(Das Pound-Zitat der Einbandseite geht so weiter: „… verwandelt, der dazu bestimmt war, das denkende Segment des Volkes von der Beschäftigung mit aktuellen Problemen abzuhalten.“)
Eins der Gedichte, die sie angekreuzt hat.
Ezra Pound
(* 30. Oktober 1885 in Hailey, Blaine County, Idaho; † 1. November 1972 in Venedig)
IST DIES DER BLÖDSINN...?
Ihr wurdet gelobt, meine Werke
weil ich frisch vom Lande hereinkam;
Ich war zwanzig Jahre hinter der Zeit zurück,
so fandet ihr das Publikum bereit.
Ich verleugne euch nicht,
verleugne nicht eure Nachfahren.
Da stehen sie ohne putzigen Kunstgriff,
Da stehen sie und haben nichts Altertümliches.
Seht nur das öffentliche Befremden:
«Ist dies», sagt man, «der Blödsinn,
den wir von unsern Dichtern erwarten ?»
«Wo bleibt das Pittoreske?»
«Wo bleibt der Strudel der Gefühle ?»
«Nein! Sein erstes Werk war das Beste.»
«Der Ärmste hat seine Ideale verloren.»1
Anmerkung:
1] Niemand hat seine Kritik an den Mächten der Zeit klarer formuliert als Pound, den die Kritik als Esoteriker hinzustellen liebt. Die nun folgende Passage über die finanzielle Funktion der Fabrik ist ein klassisches Beispiel. (Originalanmerkung 1969)
Aus: Ezra Pound: Der Revolution ins Lesebuch. Deutsche Übersetzung und Dokumentation von Eva hesse. Zürich: Arche, 1969, S. 29.
Eva Hesse hat in diesem Band Ausschnitte aus den Gedichten und Cantos ausgewählt und mit aktualisierenden Überschriften versehen. Hier das vollständige Gedicht, aus dem obiger Ausschnitt stammt.
SALUTATION THE SECOND
You were praised, my books,
because I had just come from the country;
I was twenty years behind the time
so you found an audience ready.
I do not disown you,
do not you disown your progeny.
Here they stand without quaint devices,
Here they are with nothing archaic about them.
Observe the irritation in general:
“Is this,” they say, “the nonsense
that we expect of poets?”
“Where is the Picturesque?”
“Where is the vertigo of emotion?”
“No! his first work was the best.”
“Poor Dear! he has lost his illusions.”
Go, little naked and impudent songs,
Go with a light foot!
(Or with two light feet, if it please you!)
Go and dance shamelessly!“
Go with an impertinent frolic!
Greet the grave and the stodgy,
Salute them with your thumbs at your noses.
Here are your bells and confetti.
Go! rejuvenate things!
Rejuvenate even “The Spectator.”
Go! and make cat calls!
Dance and make people blush,
Dance the dance of the phallus
and tell anecdotes of Cybele!
Speak of the indecorous conduct of the Gods!
(Tell it to Mr. Strachey)
Ruffle the skirts of prudes,
speak of their knees and ankles.
But, above all, go to practical people—
go! jangle their door-bells!
Say that you do no work
and that you will live forever.
Aus: Ezra Pound: Personæ/ Masken. Gedichte. München: dtv, 1992, S. 122/124
Veröffentlicht am 25. Juli 2025 von lyrikzeitung
152 Wörter, 1 Minute Lesezeit
Jörg Fauser
(* 16. Juli 1944 in Bad Schwalbach, Taunus; † 17. Juli 1987 in München)
Frankfurt am Main (I)
Trunken vom Höhenwahn
meldet neuen Rekord
die Deutsche Bank:
67 Zentimeter
wird ihre Zentrale
die Konkurrenz überragen.
Schau dir die Trümmer an
sagt bei der Personenkontrolle
in der U-Bahn ein Polizist
zu seinem Kollegen und
zeigt auf die Stadtstreicher
die auf der Bank ihren
Rausch ausschlafen.
Menschenauflauf vor den
Delikatessenläden.
Für Austern und Kaviar
stehn sie gern wieder
Schlange.
Wieviele Aufputschmittel
sind nötig, um so
hoch zu kommen, wieviele
Schmerztabletten, um den
Sturz zu wattieren?
Um die Ecke stehn
ihre Kinder und
spritzen sich gleich
Heroin Nr. 4 – sie
sind ihre Kinder:
Sie kotzen in die
praktischen
Einwegtüten.
Aus: Jörg Fauser Edition, Band 5. Gedichte. Hrsg. Carl Weissner. Rogner & Bernhard bei Zweitausendeins, 1990, S. 191 (ExLibris Irmgard Senf)
(„Manhattan am Main / Krankfurt sagen die andern“, aus: Frankfurt am Main II, ebd. S. 192)
Veröffentlicht am 24. Juli 2025 von lyrikzeitung
67 Wörter, 1 Minute Lesezeit
Kristin Schulz
vor den enden das ende 9
kein und aber
verliefen sich im
wald aber erschlug
kein und kein
kind nicht einmal
wind bliebe der
aber vertriebe
aber nahm fast sein
ende am ende eines
stricks doch hielt der
ast nicht was er ver-
sprach und brach
aber wie
lebt aber
ohne kein
sein
ende
Aus: Kristin Schulz, gesammelte fehlmärchen. gedichte. Frankfurt/Main: gutleut, 2014, S. 15
Veröffentlicht am 23. Juli 2025 von lyrikzeitung
Albert Vigoleis Thelen
(* 28. September 1903 in Süchteln am Niederrhein; † 9. April 1989 in Dülken am Niederrhein)
Der Büchersaal
Aller Dichter An-die-Sterne-Greifen,
aller Denker Rechten mit der Welt;
Hoffnungen, die kühn ins Leere reifen,
Glauben, taub und blind auf Stein gestellt;
Liebe, die die Herzen meerhaft weitet,
Haß, der glühend über Leichen schreitet;
Freude, die aus Dunkel Licht bereitet,
Schmerz, der heilig übers Antlitz gleitet –:
wie dämmerst du und du und du im Düster
der Schäfte, die euch Hamen sind und Herd,
wie wird zum Schrei das schwelende Geflüster,
wenn eines Lesers Hand die Seiten kehrt...
Und neigt der Tag. Und wandeln sich die Bände
aus Rot und Gold und Blau ins Schwarz der Nacht.
Und aus den Schatten wachsen nackte Hände
und bahren kalt den Katafalk der Wände,
wo nur der Totenwurm im Holze wacht.
Aus: Albert Vigoleis Thelen, Im Gläs der Worte. Gedichte. Düsseldorf: Claassen, 1979, S. 22
Hamen = ursprünglich Fischernetz; (poetisch) Fangnetz, Rahmen, Behältnis; hier also: die Bücher(regale) als „Hüllen“ der Inhalte.
Veröffentlicht am 22. Juli 2025 von lyrikzeitung
Kaspar Hauser war ein geheimnisvoller Findling, der 1828 plötzlich in Nürnberg auftauchte und angab, zuvor sein Leben isoliert in einem dunklen Raum verbracht zu haben. Sein Schicksal gab Anlass zu zahlreichen Spekulationen über seine Herkunft – vom Betrüger bis zum verschollenen Erbprinzen – und wurde zu einem Symbol für Verwahrlosung, Identitätssuche und das Verhältnis von Natur und Erziehung. Hier ein Gedicht von
Paul Verlaine
(* 30. März 1844 in Metz; † 8. Januar 1896 in Paris)
in 2 deutschen Fassungen und im Original.
Deutsch von Wolf Graf von Kalckreuth
(* 9. Juni 1887 in Weimar; † 9. Oktober 1906, 19jährig, in Stuttgart-Cannstatt)
Caspar Hauser singt
Als schlichter Waise, reich genug
An meiner Augen stillem Scheine,
Kam ich zur Stadt, fremd und alleine,
Die Männer fanden mich nicht klug.
Mit zwanzig Jahren wurde ich
Im Feuer der verliebten Sinne
Der Weiber süsser Schönheit inne:
Doch freilich schön fand keine mich.
Wenn auch in keines Königs Sold,
Ich Heimatloser Ruhm erworben,
Wär' gern ich doch im Krieg gestorben,
Doch hat der Tod mich nicht gewollt.
Kam ich zu früh, kam ich zu spät
In diese Welt voll herber Trauer?
Was soll mir, ach, des Lebens Dauer?
Denkt an mich Armen im Gebet!
Aus: Wolf Graf von Kalckreuth, Gedichte und Übertragungen. Heidelberg: Lambert Schneider, 1962
Deutsch von Paul Wiegler
(* 15. September 1878 in Frankfurt am Main; † 23. August 1949 in Ost-Berlin)
Kaspar Hauser singt.
Ich kam verwaist und ohne Lug
Zur grossen Stadt mit stillen Augen,
Ob ich den Leuten mochte taugen:
Sie fanden mich nicht schlecht genug.
Und als ich zwanzig Jahre alt
Trieb mich ein sonderbares Grauen
Man nennt es Liebe, zu den Frauen:
Sie fanden, ich sei ungestalt.
Ein Heimatloser nahm ich Sold
Und liess mich für den König werben,
Ich wollte dort im Kriege sterben:
Der Tod, er hat mich nicht gewollt.
O lebe ich zu früh, zu spät?
Was soll ich in der Welt beginnen?
Mein Alles muss in Pein verrinnen;
O sprecht für Kaspar ein Gebet!
Aus: Baudelaire und Verlaine. Gedichte . Übertragen und eingeleitet von Paul Wiegler. Berlin 1900
Das Original
Gaspard Hauser chante :
Je suis venu, calme orphelin,
Riche de mes seuls yeux tranquilles,
Vers les hommes des grandes villes :
Ils ne m'ont pas trouvé malin.
À vingt ans un trouble nouveau,
Sous le nom d'amoureuses flammes
M'a fait trouver belles les femmes :
Elles ne m'ont pas trouvé beau.
Bien que sans patrie et sans roi
Et très brave ne l'étant guère,
J'ai voulu mourir à la guerre :
La mort n'a pas voulu de moi.
Suis-je né trop tôt ou trop tard ?
Qu'est-ce que je fais en ce monde ?
Ô vous tous, ma peine est profonde :
Priez pour le pauvre Gaspard !
Veröffentlicht am 21. Juli 2025 von lyrikzeitung
170 Wörter, 1 Minute Lesezeit
Maren Kames
Zwei Gedichte
Offenbar geht es darum, das Land zu durchqueren, es womöglich zu besiedeln. Das bin also ich, wie ich das Land durchquere, es mir erschließe. Und ich trage eine große Lampe an der Stirn, einen Detektor für außergewöhnliche Vorkommnisse vor der Brust, einen Expeditionshut, beige, auf dem Kopf, ich trage meinen Kopf, und gegen das gleißende Weiß, die Schneewehen, gegen die vaskuläre Erschlaffung, den anästhesierten Blick formuliere ich widerspenstige Sätze. Ich sage:
Zu gleichen Teilen bin ich der Landschaft ausgesetzt wie die Landschaft mir. Ich bin dem Weiß überlassen, wie das Weiß mir überlassen ist. Hier bin ich der Angst ausgesetzt, hier ist die Angst ausgesetzt. Das Land macht mir zu schaffen, ich mache mich am Land zu schaffen. Ich baue Dinge im Land, mit denen ich das Weiß vermesse oder eindämme, umstelle oder zeitweise überschreite. Ich trage auf und grabe aus, ich sammle und schiebe zusammen. Das sind die Schollen, die ich bilde im Land.
Aus: Maren Kames, Halb Taube halb Pfau. Berlin: Suhrkamp, 2024 (unpaginiert)
Veröffentlicht am 20. Juli 2025 von lyrikzeitung
73 Wörter, 1 Minute Lesezeit
Doris Runge
(* 15. Juli 1943 in Carlow)
natürlich
könnte ich vorher
das handtuch
werfen
den löffel
abgeben
bei sinnen
und nicht gefundenem sinn
das tafelsilber entsorgen
mit oder ohne segen
das weltliche segnen
ohne reue ohne trost
natürlich
werde ich weitergehen
wenn die füße
den dienst versagen
erfindet der kopf
die gängigen
prothesen
Aus: Doris Runge, zwischen tür und engel. Gesammelte Gedichte. Gesammelt und mit einem Nachwort von Heinrich Detering. München: Deutsche Verlags-Anstalt, 2013, S. 93
Veröffentlicht am 19. Juli 2025 von lyrikzeitung
198 Wörter, 1 Minute Lesezeit
Kateryna Kalytko
(ukrainisch Катерина Олександрівна Калитко; * 8. März 1982 in Winnyzja, Ukrainische SSR)
VON DEN MÄNNERN
Von den Männern gefielen ihr am besten solche,
die was Wurmstichiges hatten,
denen ihr eigenes Abbild im Spiegel
mit irgendeiner Nuance im Bewegungsablauf Angst einjagte.
Und solche, die ihr die Sprache als Geschenk darbrachten,
die sich öffnen ließen wie lange gereifte
Wörterbücher,
in denen hier und da vergoldete Lettern aufblitzten,
wenn sie im Dunkeln durch ihre Seiten blätterte.
Sie störte sich nicht an Eselsohren
von früheren Lektüren,
an den Spuren fremder Hände und spröden Flecken.
Jetzt liegt das scheuste dieser Wörterbücher
aufgeschlagen vor ihr
und sie wird es lesen, koste es, was es wolle.
Für das, was jetzt passiert zwischen ihr
und diesem Träger der Sprache, lassen sich keine Worte finden,
die das Familienporzellan in der Anrichte davor bewahren,
sogleich entzwei zu gehen,
vom bloßen Klang ihrer Stimme, dem Fakt, daß sie spricht.
Und sie schärfte sich. Verwandelte sich
in eine Schreibfeder aus Schilfrohr. Schickte sich an,
nicht nur das Wörterbuch zu Ende zu schreiben,
sondern die ganze Sprache,
eingeschlossen darin, mit all ihren heimatlosen Namen.
Aus dem Ukrainischen von Jakob Waloscczyk, aus: Poesiealbum. Gedichte aus der Ukraine. Auswahl Jakob Walosczyk. Wilhelmshorst: Märkischer Verlag, 2023, S. 30
Veröffentlicht am 18. Juli 2025 von lyrikzeitung
411 Wörter, 2 Minuten Lesezeit
Gestern vor 100 Jahren wurde der ungarische Dichter László Nagy geboren (* 17. Juli 1925 in Felsőiszkáz, † 30. Januar 1978 in Budapest).
IM VERSWALD VERSTECKT
Lebst wie ein Räuber, im Verswald versteckt.
Hast aus den Seufzern, beklemmenden Sorgen
eines dir hart aufgetragnen Geschicks
dir diesen Wald aus Lianen gelegt;
dieses Gestrüpp, dessen Dunkel das Weiße
seidenen Hemds in ein Irrlicht verwandelt,
Flamme des Weins, von den Winden gehetzt.
Lebst wie ein Räuber, im Verswald versteckt.
Unstet die Augen, wie Lücken im Laubwerk,
wie sie sich weiten und wieder verengen,
immer woanders und niemals in Ruhe,
immer visierend, doch nicht zu visieren;
wölfisches Glühen nach außen und Wachsein,
innen ein Rehkitz mit Sternchen und Sterz;
innen vom Eisengehalt deines Blutes,
doch im azurnen Oval der Membranen
diese phantastische Lichtwelt, dein Füllen,
deine Verfehlung, das Sonnenlicht bleckt.
Lebst wie ein Räuber, im Verswald versteckt.
Mutterschaft der Partisanen, gesegnete,
bärtige Mutterschaft, weinlaubgekrönte ...
daß du zum Fest der sich kreuzenden Fäuste
nicht zur lebendigen Leidtrommel wirst;
daß du den Sinn deines Seins nicht verfehlst,
von den Hebammen des Todes geknetet;
daß dir nicht kalte Pinzetten entreißen den
köstlichen Märchenwelt-Blitz deiner Sinne,
um ihn als Strauß vor den Spiegel zu stellen.
Alles erfröre, wenn sich mit deinem
atmendem Hemd nur ein Stein-Pfahl umhüllte.
Schmück es mit Blumen und halte es fest.
Lebst wie ein Räuber, im Verswald versteckt.
Räuberheld. Himmlische, irdische Breiten
stehen in Flammen. Zur Asche geworden,
stürzen die Vögel vom Himmel. Es taumelt,
trauernd der Mensch, der das Rad erfunden.
Weinend verharrt auch des Ahorns Propeller-
samen. Was ist aus dem Urbild geworden?
Fallschirme breit, Margeriten des Todes,
wenn sie erblühen, verschließt sich das Leben.
Ist doch der Himmel kein Himmel. Der Segen
ein Fluch, wenn sich Manna und Pulver vermengen.
Lichtschein wird Sense. Die Kindlein entsetzt,
kehren der Tagwelt den Rücken, es trommeln
die Fäustchen bestürzt an den Toren der Mütter.
Bereit auch zur Flucht sind die Eiweiß-Girlanden,
Bergbuckel-Herden, sie streben zurück in die
winzige Urzelle. Weiter noch, hinter den
taumelnden Mond, den in Brand gesetzten.
Lebst wie ein Räuber, im Verswald versteckt.
Trägst an den Füßen Moosstiefel und Ameisen-
völker, du glühst von den Giften der Unrast –
und urteilst inmitten der Stachel der Treue,
der du nicht auskommst, und wenn du verreckst.
Lebst wie ein Räuber, im Verswald versteckt.
Wirfst deinen Handschuh, diese fünffingrige
Lilie stracks vor die witternden Hunde.
Gieriges Schnappen. Blut sickert aus ihm.
Übertragen von Wilhelm Tkaczyk, aus: Poesiealbum 45: László Nagy. Ausgewählt von Paul Kárpáti. Berlin: Neues Leben, 1971, S. 31f
Veröffentlicht am 17. Juli 2025 von lyrikzeitung
226 Wörter, 1 Minute Lesezeit
Paul Éluard
(* 14. Dezember 1895 in Saint-Denis bei Paris; † 18. November 1952 in Charenton-le-Pont bei Paris)
Das Wort
Ich bin von müheloser Schönheit und das ist gut.
Ich gleite über das Dach der Winde
Ich gleite über das Dach der Meere
Ich bin empfindsam geworden
Ich kenne den Lenker nicht mehr
Ich bin reglos Seide über dem Eis
Ich bin kränklich Blumen und Kiesel
Ich liebe das Seltsamste bis in den Himmel
Ich liebe die Nackteste verirrt wie ein Vogel
Ich bin gealtert aber hier bin ich schön
Und der sinkende Schatten aus tiefen Fenstern
Verschont jeden Abend das schwarze Herz meiner Augen.
Aus dem Französischen von Gerd Henniger, aus: Paul Éluard: Schwestern der Hoffnung. Ausgewählte Gedichte. München: dtv, 1973, S. 19. Das Gedicht stammt aus dem Band „Répetitions“ (Wiederholungen), 1922.
LA PAROLE
J´ai la beauté facile et c’est heureux.
Je glisse sur le toit des vents
Je glisse sur le toit des mers
Je suis devenue sentimentale
Je ne connais plus le conducteur
Je ne bouge plus soie sur les glaces
Je suis malade fleurs et cailloux
J’aime le plus chinois aux nues
J’aime la plus nue aux écarts d’oiseau
Je suis vieille mais ici je suis belle
Et l’ombre qui descend des fenêtres profondes
Epargne chaque soir le cœur noir de mes yeux.
Aus: Paul Éluard: Répetitions. Dessins de Max Ernst. Paris: Au sans pareil, 1922, S. 17
Veröffentlicht am 16. Juli 2025 von lyrikzeitung
527 Wörter, 3 Minuten Lesezeit
Der Georg-Büchner-Preis 2025 geht an Ursula Krechel. In der Jurybegründung heißt es, dass Ursula Krechel mit ihren Gedichten, Theaterstücken, Hörspielen, Romanen und Essays den Verheerungen der deutschen Geschichte und Verhärtungen der Gegenwart die Kraft ihrer Literatur entgegensetze.
Ursula Krechel
(* 4. Dezember 1947 in Trier)
Die Krise der Ballade ist vorbei!
Besteht noch gewisser Handlungspielraum
Zwischen ging und gegangen mitgefangen
Rasenden Kopfschmerzen Lebkuchenherzen.
Mein Balladenladen ist heute geöffnet
Schicksals-, Ideen-, und Legendenballaden
Zu ordnen und überschaubar zu machen
Sind eher nicht so großartige Sachen wie:
Fiel und mit Karacho umgefallen und nie
Aufgelöst in Wohlklang, reitet schnurstracks
Zur Mühle, löscht seinen Durst und wirft
Seinen Goldring in den tönernen Krug, Moose
Die weinen und Kieselsteine, die sich reiben
Da haucht es: Schau, eine Prozession ging
Und ging im Tal herum, verwirrte Gestalten
Taumelten hinter dem Lebensstrick. Und
Wußten nicht, wo sie auftreten sollten
In quirlend sprudelnd wörtlicher Rede oder
Zwischen Anführungszeichen und Zitaten.
Die Ballade ist ein Gedicht von gewisser
Länge; Formenstrenge braucht sie nicht.
Ritt ein Vater mit seinem Kind und fürchtete
Nicht den Reimzwang, wenn die Ingenieure
Erwachen, zusammengefahren im Nebel
Abgedrängt, Opfer haben nichts zu lachen
Erlkönig heißt ein Phantomautomobil
Jagt über die Straßen, Gänge knirschen
Scheucht von der Fahrbahn, wer im Weg
Wird verbannt, verschwindet im Nu
Ging ist gegangen worden und beworben
Harter Aufprall in den Dimensionen Klang
Und Schrift und action, wie die Handlung bellt
Auch ein alphabetisches Autorenregister
Hausschatz wie Bettschatz in dunkler Stube
Zitieren die Strophen, geht ein Atem heiß
Ums Haus und weiß nicht, ob er stocken soll
Wo Muhme und Mutter, das Kind ist ein Bube
Bettschatz wie Wortschatz, blinkend und
Prunkend, schlechte Wörter sind abgesunken
Mit rechten Dingen geht's zu, aber ohne
Beweiskraft, ohne Balladensaft, staubtrocken
Konjugationsmuster, verschnürt in Schachteln
Mottenkugeln kullern, Frisuren nach Schema F
Stimmung ist Fehlen von Nüchternheit
Während jegliches Reimschema zerschellt
Wispern von Stimmen aus alten Büchern
Einschlagen von schwitzigen Händen in
Kalte Tücher, wäre Pfarrer Kneipp gekommen
Help! Help! Oder: Krawitt! Ein Vogelbad im See.
Spätromantik und Kunstballade, märchenhafte
Motive, Vermeidung von grellen Kontrasten
Nur nicht durch Strophen hasten, die – geschenkt –
Ursprünge aufzeigen, sich neigen wäre Lesen
Wie Atmen gewesen und Atmen ist Tanzen
Hasten und Heulen, Verben wie Sterben
Vererbensgelächter unter der Treppe ein Ort
In Nacht und Wind befreundet mit Stanzen
Zeugnis der produktiven Zusammenarbeit Altlasten
Auf den Tasten ökonomisch als Datei vereinigt
Unerhörte Geschehnisse wie Mordbrennen, Sennen
Feuerbesprechen sowie das Brechen des Fastens
Handlungsgedicht, Wörtergericht, lichterloh
Zum Pfählen, Hängen, Brennen im Büßer=
Gewand, geköpft das Ur-Ei, weichgekocht
Aus'm Loch gebracht vom Henker, Priester
Segnet, ging, empfing — reißt, riß, gerissen
Die Leine: Roß und Reiter verknoten die
Zügel, Stimme schlug über, Schlagabtausch
Blutrausch und hingerissen, hin und weg
Vokale sind Schakale, fallen unschuldige
Esser an, die Balladenkerne spucken
Sich balgen, das blutige Maul zerreißen
An den Eingeweiden der Sprache, Knochen
Knacken die Geste der Zerstörung, Klang=
Zellenarbeit, Feinschliff, Zermalmung des
Grotesken, Kraftakt wie Kraftfutter: Verb
Vom Verb wie Fleisch vom Leder gezogen
Als längst die Mitternachtsglocke rief
Da war's nicht schaurig, glasklar war's
Befeuchtet mit einem Realismuskonzept
Kind war tot als ein besonderes Ereignis.
Aus: Ursula Krechel: Jäh erhellte Dunkelheit. Gedichte. Salzburg und Wien: Jung und Jung, 2010, S. 33ff
Veröffentlicht am 15. Juli 2025 von lyrikzeitung
502 Wörter, 3 Minuten Lesezeit
Bertram Reinecke
ZAW LA ZAW, KAW LA KAW IV
vaters merkbuch für hausbesuche. die geburtstage trug er ein
sterbefälle, wegzüge strich er heraus:
ein verkleinerter auszug aus dem kalender gottes
wie das klassenbuch in frau kollmorgens aktentasche
ein vorhalt auf gottes kladde am jüngsten tag.
aber noch reihte es sich aus abend und morgen dahin.
dann und wann kam der sensenmann (ohne kapuze
wozu auch, man soll nach dem regen mähen)
tippte an seine schifferkappe, begann
in winzigen schritten voranzutreten mit schwingenden hüften
regelmäßig wie das pendel der uhr, und machte heu.
zwischen wachen und schlafen, zwischen halbschlaf
und halbwach halb im schlaf und halb im halbwachen halbschlaf
schlafwachend schlichen die tage hin.
wachet auf ruft uns die stimme der mutter in der herrgottsfrühe
sie macht die lampe an, deckt den tisch und die morgenröthe
hatte (jedenfalls sommers) schon das gestirne unter den rock
ihres lichtes verborgen, wenn wir, wir mußten ihm entgegengehn
vorbei an kirche und friedhof müde zum schulbus fröstelten.
aber brannte nicht unser herz in uns als
frau kollmorgen dem knappen dutzend schüler
die morgenröthe einer neuen zeit auslegte
ein starker und mächtiger kam von dort, war
in den himmel geflogen und hatte keinen gott gesehen, während
feuer regnen vom himmel herab in vietnam.
sie erklärt den sozialismus auf dem lande:
das melkkarussell (ließ auf sich warten)
die kombine, maat und drusch, nur ein arbeitsgang
If 16 auf w 50 im nemerower spritzenhaus
im neuen befreiten jahrtausend aber würden wir
unsere gesamte nahrung aus plastegefäßen
zu uns nehmen, unter anleitung der sowjetunion
ein anderer mächtiger mann, unser direktor stabe
vertrat schon jetzt in der volkskammer in berlin
die interessen unseres volks. mein vater jedoch
sah noch immer die falschen, ewig gestrigen nachrichten.
ihr habt euch entschlossen mitzuhelfen
den schädling »lodrian« zu vertreiben, also erklärte ich es ihm
wie ein wassersturm der mächtig einreißt, er erwiderte nur:
ich weiß daß deine lehrerin dieser ansicht ist.
weh der prächtigen krone der trunkenen von ephraim
der welken blume ihrer lieblichen herrlichkeit!
ich wünschte mit den füßen leicht aufwärts begraben zu werden
so wie die kosmonauten liegen, im schlaf noch
trainieren für die schwerelosigkeit, wollte ich doch schließlich
später auch noch nach oben hinauf.
der schädling »lodrian« ist nämlich ein hartnäckiger bursche
wendet euer wissen an, wenn ihr dem schädling »lodrian« in der schule
im haushalt oder anderswo begegnet!
Aus: Sinn und Form 4/2025, S. 507f
Etliche der Zitate lassen sich in der Bibel, Jesaja 28, finden, darunter auch das rätselhafte Titelwort. Ich gebe dafür 2 Übersetzungen:
Darum wird für sie des HERRN Wort zu »Zawlazaw zawlazaw, kawlakaw kawlakaw, hier ein wenig, da ein wenig«, dass sie hingehen und rücklings fallen, zerbrochen, verstrickt und gefangen werden.
Lutherbibel 2017
Also wird Gott ihnen auf diese Art Antworten geben: „Hsn bla blup, töff doff, brasel brasel, bla blup bla.“ Er will, dass sie nicht wissen, wo es langgeht, dass sie stolpern und auf die Fresse fallen, dass sie sich die Gräten brechen, dass sie in die Falle gehen, dass sie verhaftet und abgeführt werden.
Volxbibel
Veröffentlicht am 14. Juli 2025 von lyrikzeitung
Georg Trakl
(* 3. Februar 1887 in Salzburg; † 3. November 1914 in Krakau, Galizien)
Menschheit vor Feuerschlünden aufgestellt,
Ein Trommelwirbel, dunkler Krieger Stirnen,
Schritte durch Blutnebel; schwarzes Eisen schellt,
Verzweiflung, Nacht in traurigen Gehirnen:
Hier Evas Schatten, Jagd und rotes Geld.
Gewölk, das Licht durchbricht, das Abendmahl.
Es wohnt in Brot und Wein ein sanftes Schweigen
Und jene sind versammelt zwölf an Zahl.
Nachts schrein im Schlaf sie unter Ölbaumzweigen;
Sankt Thomas taucht die Hand ins Wundenmal.
Aus: Georg Trakl, Dichtungen und Briefe. Hrsg. Hans Weichselbaum. Salzburg, Wien: Otto Müller, 2020, S. 41
Veröffentlicht am 13. Juli 2025 von lyrikzeitung
Es ist vielleicht 30 Jahre her, da schrieb eine ältere Dame an das Institut für Deutsche Philologie einen Brief. Sie habe eine Gedichtzeile ihr Leblang im Kopf gehabt: „Ach wer das doch könnte, nur ein einziges Mal“. Sie wisse aber nicht wer der Verfasser sei und wie es weitergeht. Die Anfrage wurde mir zugeleitet, ich fand das Gedicht und schickte ihr den Text. Es war ein Kindergedicht von Victor Blüthgen, in dem ein Kind davon träumt, wie ein Drache in den Himmel aufzusteigen, um die Welt von oben zu sehen und himmlische Freiheit zu erleben – ein sehnsüchtiger Wunsch nach dem Entrinnen aus der Enge des Irdischen, wenn auch nur für einen einzigen Moment. „Ach, wer das doch könnte, / nur ein einziges Mal!“
Ich schickte ihr den Text, sie bedankte sich und schrieb: nur ein Kindergedicht, aber dieser eine Satz hat mich mein ganzes Leben begleitet und war mir wichtig.
Wegen dieses einen Satzes kann man doch auch mal ein Kindergedicht lesen. Oder? Wer möchte das nicht, der Enge des Irdischen mal zu entrinnen? Gedichtzeilen können das, wie meine geneigten Leserinnen und Leser wissen.
Victor Blüthgen
(* 4. Januar 1844 in Zörbig; † 2. April 1920 in Berlin)
Ach, wer das doch könnte!
Gemäht sind die Felder,
Der Stoppelwind weht.
Hoch droben in Lüften
Mein Drache nun steht,
Die Rippen von Holze,
Der Leib von Papier,
Zwei Ohren, ein Schwänzlein
Sind all seine Zier.
Und ich denk: so drauf liegen
Im sonnigen Strahl,
Ach, wer das doch könnte
Nur ein einziges Mal!
Da guckt ich dem Storch
In das Sommernest dort:
Guten Morgen, Frau Störchin,
Geht die Reise bald fort?
Ich blickt in die Häuser
Zum Schornstein hinein:
O Vater und Mutter,
Wie seid ihr so klein.
Tief unter mir säh ich
Fluss, Hügel und Tal,
Ach, wer das doch könnte,
Nur ein einziges Mal!
Und droben, gehoben
Auf schwindelnder Bahn,
Da fasst ich die Wolken,
Die segelnden an;
Ich ließ mich besuchen
Von Schwalben und Krähn
Und könnte die Lerchen,
Die singenden sehn;
Die Englein belauscht ich
Im himmlischen Saal;
Ach, wer das doch könnte,
Nur ein einziges Mal!
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