Schattenhangschreiten

Der da spricht, ist ein Querstromschwimmer:

Gewagt das Überqueren gewagt meine Stimme der breite Strom

Der sensible Beobachter geht ein in die Flusslandschaft:

Da ein Ufer dort ein anderes auch nicht meines mit weicher Kreide gezeichnet Lastkähne Rebzeilen badisches Land Herbstgerüche wagen sich über Grenze und Wasser und setzen sich zu mir nah zu mir als seien wir seit langem befreundet

/ Irène Bourquin, Landbote 30.11.02 über den Maler und Lyriker Werner Lutz (Basel).

Werner Lutz: «Schattenhangschreiten», Gedichte, Verlag Im Waldgut, Frauenfeld 2002, 87 Seiten

Kranke Hirne

Die Berliner Zeitung (29.11.02) druckt einen bösen Kommentar des nigerianischen Schriftstellers Wole Soyinka zur Lage in seinem Land nach den jüngsten blutigen Unruhen:

Ja, der Schönheitswettbewerb ist ein triviales Vergnügen, und manche mögen argumentieren, dass er sogar den Status der Frau herabsetzt. Aber wenn ich die Wahl habe zwischen dem bärtigen Möchtegerntaliban-Gesicht eines Schariaherrschers, der die Miss-Wahlen im Fernsehen verwünscht, und dem Anblick elfenhafter Weiblichkeit auf dem Laufsteg, dann ziehe ich Letzteres ohne Zögern vor. Unglücklicherweise ist unsere Welt befallen von kranken Hirnen, in denen geschmeidige Glieder nur den Gedanken an Amputation erwecken. Ein hübsches Gesicht lässt sie nur geifernd fantasieren, was für ein schmutziger Brei davon übrig bleibt nach einem steinzeitlichen Steinigungsritual.

Walter Neumann

Der Landbote Winterthur (29.11.02) schreibt über den in Riga geborenen Lyriker Walter Neumann:

Die vergebliche Heimatsuche und das Erlebnis der Vernichtung lassen Neumann eine übermächtige Kraft erahnen, welche die Ursprungssuche zu einer lyrischen – und das heisst: transzendenten – Suche nach sich selbst macht: «Insel im Strom / der fressenden Zeit. // Noch ist sie (…) nicht bedeckt mit zerstörtem Leben, // (…) Im Zeitsprung / schliessen wir Risse, / heben Fallendes auf. // Noch trägt uns der Strom. // Noch hat uns die Zeit nicht eingeholt» (aus: «Der Flug der Möwen», Heiderhoff Verlag). Kann also der Einzelne gegen die Übermacht der Zeit ankommen, um zu sich selbst zu finden? Er kann: Mit «Wortnetzen» ist das Menschliche – das Gute wie das Böse – aus dem Zeitstrom zu fischen und es zu einem Ganzen zusammenzutragen, das neue Lebensaussichten eröffnet.

Tom Paulin

In einem Brief an die NYT*) (29.11.02) reicht Helen Vendler, professor of English at Harvard university, eine Stellungnahme von Tom Paulin nach:

„Whatever was said in my lengthy exchange, the views I hold on the situation in the Middle East, and on the need to oppose all forms of anti-Semitism, have been made clear in the statement I issued to The Daily Telegraph. This reflects my lifelong commitment to fighting racism in all its forms. I fully understand that some of what was reported in the original article is deeply offensive to all right-thinking people. My quoted remarks completely misrepresent my real views. For that, I apologize.“

Klings Zaubersprüche

Denn mit wachsender Begeisterung schlägt Kling in seinen neuen Gedichten ästhetische Funken aus Zaubersprüchen, mythischen Gesängen und «carmina diabolica».

In seinem jüngsten Gedichtband, «Sondagen», seinem bislang umfangreichsten und fesselndsten Werk, finden wir faszinierende Anverwandlungen der alten Zauberlieder und Hexensprüche, die am oralen Anfang jeder Poesie stehen. Hier wird ein germanischer Regenzauber beschworen, dort die «Applikation der flut- und flugsalbe» aufgerufen, mit der die Hexen als Antipoden neuzeitlicher Vernunft einst «Hagelschlag zu erregen pflegten». / Michael Braun, Basler Zeitung 29.11.02 über

Thomas Kling: «Sondagen». Gedichte. DuMont, Köln 2002. 140 S., im Schuber mit CD, Fr. 33.90.

Shelleys Schöllkraut

„Das Interessanteste unter meinen Einkäufen“, schreibt Percy Bysshe Shelley im Sommer 1816 aus Montalègre an seinen Freund Thomas Peacock, „ist eine große Sammlung von Samen seltener alpiner Pflanzen (.. .). Sie sind verwandt mit dem Schöllkraut – dem klassischen Schöllkraut (. ..); sie sind genauso wild und noch verwegener als jenes, und sie werden ihm Geschichten von Dingen erzählen, die so ergreifend und erhaben sind wie der Blick eines jungen Poeten.“

Dieses Zitat lässt tief blicken. Es verrät dem Leser, nachdem dieser die Schluchten der Syntax durchwandert hat, nicht nur, dass Schöllkrautsamen aus den Schweizer Alpen geschwätzig sind, nein, sie sind wild und noch verwegener als das klassische Kraut. Shelley, der seinen ergriffenen Blick sonst vorzugsweise über die erhabenen Alpen schweifen lässt, zieht hier den Vergleich mit einer Pflanze: das Auge des jungen Poeten sieht jene Dinge, von denen das alpine Schöllkraut zu berichten weiß. / Henning Ahrens, SZ 29.11.02, über

MARY W. SHELLEY / PERCY B. SHELLEY: Flucht aus England. Reiseerinnerungen und Briefe aus Genf 1814-1816. Aus dem Englischen und herausgegeben von Alexander Pechmann. Achilla Presse Verlagsbuchhandlung, Hamburg 2002. 140 Seiten, 18 Euro.

Karl Wolfskehl

Selten hat jemand länger um ein Gedicht gerungen als Karl Wolfskehl um sein Lied „An die Deutschen“. In Rom, der zweiten Etappe ins Exil, beginnt er mit den Versen: „Euer Wandel war der meine / Eins mit euch auf Hieb und Stich. / Unverbrüchlich war uns eine, / Eins das Grosse, eins das Kleine: / Ich war Deutsch und ich war Ich.“ Die beiden Seelen in seiner Brust gehören dem deutschen Dichter und dem deutschen Juden. / FAZ über eine Potsdamer Tagung, 27.11.02
Mehr: Süddeutsche 28.11.02 – FR 28.11.02

poetry news

Für die FR (27.11.02) bespricht ROLF-BERNHARD ESSIG:

SAID
Außenhaut Binnenträume
Neue Gedichte
Verlag C. H. Beck, München 2002, 100 Seiten, 14,90 Euro

In der gleichen Ausgabe schreibt Yaak Karsunke über Thomas Brasch´ Nachlaßgedichte:

Thomas Brasch
Wer durch mein Leben will, muss durch mein Zimmer
Gedichte
Herausgegeben von Fritz J. Raddatz und Katharina Thalbach
Suhrkamp Verlag, Frankfurt am Main 2002, 204 Seiten, 16,90 Eur o

Gegenkulturen

In der Süddeutschen Zeitung porträtiert Markus Mathyl die hierzulande gefeierte russische Dichterin Alina Wituchnowskaja als Teil einer „nationalistischen Gegenkultur“:
Ihre Antwort: „Lieber in der Heimat im Gefängnis als ein freies Leben im Westen“ gefiel dem Interviewer so sehr, dass er sie als Titel wählte. Der zynische Doppelstandard einer gerade erst auf Druck vieler Menschenrechtsorganisationen Freigelassenen sollte nicht ausschließlich provokativ oder opportunistisch verstanden werden. Eher ist er Ausdruck eines das Umfeld Wituchnowskajas stark beeinflussenden elitären Faschismus, der sich, in Anlehnung an den italienischen faschistischen Theoretiker Julius Evola, zentral um die Begriffe Rasse, Elite und Hierarchie bewegt, dabei klar zwischen den zur Freiheit Auserwählten und den zum Dienen Geborenen unterscheidet und letztlich die Herrschaft einer faschistischen Kriegerkaste „wiederbeleben“ will. / SZ 26.11.02

Poetry from a mummy: die Erfindung des Gedichtbandes

Über einen der glücklichsten Neufunde antiker Texte berichtet ein Artikel der New York Times *) am 26.11.02. Grabräuber hatten eine Mumie gefunden und gestohlen. Eine Papyrusrolle (Mumien wurden mit gebrauchten Papyrusrollen ausgestopt) mit griechischen Gedichten tauchte auf dem europäischen Kunstmarkt auf und befindet sich heute in der Universität Mailand, die die Texte im vergangenen Jahr veröffentlichte. Es handelt sich um das älteste überlieferte Lyrikbuch aus der griechischen Antike, offensichtlich ein zum Lesen bestimmtes, sorgfältig komponiertes Buch mit 112 Epigrammen von Poseidippos aus dem 3. Jh. v.Ch. – davon 110 (! bisher waren nur etwa 20 kurze Gedichte des Autors bekannt) bisher unbekannte Texte. Anders als bisher bekannte Texte des Autors handeln die Gedichte nicht von Wein und Liebe – es sind didaktische Gedichte. Poseidippos wollte, sagt ein Forscher, das didaktische Epigramm erfinden – aber das Publikum nahm die Erfindung nicht an.
Hier eins der bislang bekannten Epigramme des Dichters (aus der viel später zusammengestellten „Griechischen Anthologie“):

Spende uns reichlich vom Tau des Bakchos, kekropische Flasche,
Tropfen seien geweiht unserem neuen Beschluß!
Nichts mehr von Zenon, dem weisen Schwan, und dem Dichter Kleanthes!
Leiten soll mich als Herr Eros, so bitter wie süß.

Der NYT-Artikel bietet online auch ein Bild des Papyrus und einige Texte.

This poem was previously unknown:

Wherever you hold Pythermos the good, who died
under the chill of Capricorn, cover him lightly,
black Earth. But if it’s you, Father of the Sea, who keep him
hidden, put him out now, intact, on the bare sand
in full view of Kyme [a place], giving, as you should, the dead man,
O Master of the Sea, back to his native land.

Mehr über die Papyri und den Autor:

Meldung auf Telepolis / Univ. of Cincinatti News / National Geographic / The Chronicle 29.11.2002 / View the Entire Scroll ( (large image — 832k ) / Faksimile / Provisional translations of some of the epigrams by Mary R. Lefkowitz, Wellesley College / Poetry Archive / Greek anthology – Mackail´s text / Poseidippos in meiner Anthologie (Namen suchen)/ Poseidippos-Statue / Dolce Italia – Nachricht, deutsch /

Kampf der Kulturen

Die Berliner Zeitung spricht mit dem libanesischen Dichter Abbas Beydoun:
AB: Die arabische Kultur ist von einem tiefem Zweifel und Selbsthass befallen. Ihrer eigenen Ansicht nach ist sie unreif, unvollständig und nicht ursprünglich. Außerdem gerät sie oft in einen Widerspruch zwischen ihrem westlichen Fundament und ihren antiwestlichen ideologischen Zielen.

BZ: Der Widerspruch liegt also in der arabischen Kultur selbst?

AB: Tatsächlich findet der Kampf der Kulturen innerhalb der arabischen Kultur selbst statt. Wir befinden uns in einem Zustand der Schwebe, wir treten auf der Stelle. Wichtig wäre jedoch, dass wir uns selbst akzeptieren, dass wir unsere Schmach – wenn man die Kapitulation vor dem Westen als solche bezeichnen kann – so annehmen, dass 150 Jahre genügen, um Geschichte zu konstituieren. Wir können nicht so tun, als ob die Geschichte nicht stattgefunden hätte und von vorne anfangen. /BZ 26.11.02

Abbas Beydoun liest heute (26.11.02) um 19 Uhr zusammen mit Michael Kleeberg, moderiert von Navid Kermani, im Haus der Kulturen der Welt.

Natürlich die Schweizer!

Die Literatur haben die Schweizer zwar nicht erfunden, doch gewinnt man beim Lesen den Eindruck, viele Autorinnen und Autoren hierzulande seien daran, ihre Stimme zu (er)finden.

Schreiben die Schweizer. Und das Buch dazu heißt: Natürlich die Schweizer! / St. Galler Tagblatt 25.11.02 (wo es auch einen Beitrag über Florian Vetsch gibt).

Reto Sorg; Yeboaa Ofosu (Hrsg.): Natürlich die Schweizer! Aufbau Verlag, Berlin 2002, Fr. 14.20

Hauptstadt der Poesie

Gibt es irgendwo auf dieser Welt eine zweite Dichterin wie diese? Eine, deren jedes in der Presse erschienene Gedicht zum Ereignis und jeder Gedichtband zum Fest für die Liebhaber der Poesie wird? Eine, die allen Moden widersteht und stets sie selbst bleibt?“ Diese euphorischen Fragen, mit denen einst der polnische Poet Stanislaw Baranczak seine ältere Kollegin und Nobelpreisträgerin von 1996, Wislawa Szymborska, feierte, dürfen sich die Bewunderer ihrer Dichtkunst seit ein paar Wochen wieder stellen: Neun Jahre lang mußten sie auf einen neuen Gedichtband der Krakauer Lyrikerin warten. Nun ist er endlich da, trägt den Titel „Augenblick“, besteht aus nur dreiundzwanzig Gedichten und löst bei der polnischen Literaturszene neue Begeisterungsstürme aus. Es sei, jubeln die Kritiker, immer noch die gleiche, unverkennbare Dichterhandschrift, zu der Knappheit der Form und Präzision des Ausdrucks, Abstraktion und Konkretheit, Nachdenklichkeit und intellektueller Scharfsinn gehören. / Marta Kijowska, FAZ 25.11.02

Apti Bisultanov

Die SZ interviewt den tschetschenischen Dichter und Widerstandskämpfer Apti Bisultanow:

SZ: Sie sind Dichter, wobei Sie stets auf tschetschenisch und nie auf russisch geschrieben haben, waren Politiker, haben bei den Widerstandskämpfern gelebt – viele Leben für einen Mann.

Bisultanow: Ich kann eines nicht vom anderen trennen. Zu Sowjetzeiten wurde über mich als Herausgeber und Autor Berufsverbot verhängt, die Perestroika hat mich gerettet. Aber so hoch ich die Kunst schätze – wenn über eine Gesellschaft die Katastrophe hereinbricht, kann ein Künstler nicht abseits stehen. Ich habe den Widerstand immer unterstützt. In einer Welt, in der alles verloren ist, gibt es Menschen, die bereit sind, für die Gerechtigkeit zu kämpfen, in irgendeinem Lager, mit der Waffe in den Hand. / SZ 25.11.02

Sieben Himmel

Wie anders geht da Michael Donhauser, nun durch Rheinhessen. Er geht, wie er schreibt, durch eine Textlandschaft; und wir lesen mit ihm eine glücklich mit der Geliebten durchlebte Ortlosigkeit. Donhauser erwandert sich, was es gibt, enthält sich, anders als es beispielsweise Handke in früheren Texten getan hat, weiterreichender Folgerungen. Ihm ist die Landschaft, wie er schreibt, „in Zeilen angelegt“. Wer hier einen Himmel finden will, muss lesen können, in der wunderbar matt-melancholischen, in der verführerischen Sprache Michael Donhausers.

Norbert Hummelts Melodien über den Hunsrück stammen ebenfalls aus der Jugendzeit. Sie transponieren die Stimmen von stummen Wesen, von Forellen und gar von Apfelsaft in Verse und in Prosastücke. Eichendorff ist bisweilen sein Begleiter, dessen Verse, schreibt Hummelt über diese glückliche Allianz, haben ihn noch nie betrogen. Ähnlich dem Vorsatz bei Michael Donhauser ist alles aufgrund seiner Zeichenhaftigkeit gegenwärtig, kann alles Schrift sein. Die Natur von Hummelts Autorschaft kennt Rhythmen, Schwingungen und Laute. In dieser Resonanz treten wir in einen Kindheitsgarten, in dem die Allmacht großer Nähe herrscht, Nähe zu den Fliegen und den Steinen, zu Blicken, Schreien und Erinnerungen, um die es heute auch hier geht: „ich weiß nicht ob ich jung bin oder alt“, unter diesem Himmel, der das ganze kleine Buch zu tragen imstande ist, in diesen Gedichten herrscht die Macht der Gleichzeitigkeit, die alles sieht, durchaus mit einem Zittern, und nichts vergisst. / Guido Graf, FR 23.11.

Gregor Laschen (Hrsg.): An die sieben Himmel. Lyriker und Erzähler besuchen sieben Landschaften. Verlag Das Wunderhorn, Heidelberg 2002, 93 Seiten, 14,90