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513 Wörter, 3 Minuten Lesezeit.
Am letzten Tag des Jahres will ich einen Dichter präsentieren, der irgendwann im Verlauf des Jahres 1125, vor 900 Jahren minus x Tagen, geboren wurde. Er heißt Lu Yu, auch Lu You (traditionelles Chinesisch: 陸游; vereinfachtes Chinesisch: 陆游) und lebte von 1125–1210. In China scheint er bis heute populär zu sein – beim Suchen fand ich Zitate seiner Liebesgedichte in chinesischen oder amerikanisch-chinesischen Krimis. Gerühmt wird er wohl vor allem als patriotischer Dichter. Er schrieb über 8000 Gedichte, mehrheitlich in fortgeschrittenem Alter. Ich habe ein Gedicht über das Altwerden in der Fassung des US-amerikanischen Künstlers Walasse Ting herausgesucht.
Walasse Ting hat eine sehr spezielle Art zu übersetzen, die die Fremdheit der Sprache für westliche Leser*innen herausstellt. Wieweit seine Übersetzungen wort- und sinngetreu sind, ob er die Gedichte kürzt oder mit Motiven frei umgeht, ich kann es nicht beurteilen (der Untertitel des Buches scheint es nahezulegen). Ich habe keine andere Version für eins dieser Gedichte finden können.
ALREADY OLD
When young
Shoot tiger
Ride wide horse
Open heavy bow
Now old
Go out door
Need man to hold my arm
Aus: Chinese Moonlight. 63 poems by 33 poets. Translated & recomposed by Walasse Ting. American distributor: Wittenborn and Company, 1018 Madison Avenue, New York City, o. J. (1967), S. 50
Hier eine rasche Übertragung ins Deutsche:
SCHON ALT
Wann jung
schieße Tiger
reite Pferd
spanne Bogen
Jetzt alt
Gehe aus Tür
Brauche Mann der mir Arm hält
Ich habe KI aufgefordert, diese „entdeutschte“ (im Sinne Walter Benjamins: nicht das Chinesische verdeutschen, sondern das Deutsche verchinesischen) Fassung in eine strengere Vier-Zeilen-Fassung im altchinesischen Stil umzubauen. KI beschreibt den klassischen Stil so: 4 Zeilen, jeweils gleich knapp gebaut, klare Zäsur jung/alt, bildhafte Parallelität. Hier das Ergebnis:
SCHON ALT Jung: Tiger fällt, Bogen voll. Jung: Weites Pferd unter Himmel. Alt: Tür ein Schritt zu weit. Alt: Arm sucht fremde Hand.
KI schlägt dann vor: „Wenn du möchtest, kann ich die Form noch enger an lüshi (律诗) annähern (symmetrische Wortanzahl je Zeile, stärkere Antithese in Zeile 3/4).“ Aber bitte gern:
SCHON ALT
Jung: Tiger fällt, Bogen spannt.
Jung: Pferd weit läuft, Wind folgt.
Alt: Tür nah steht, Schritt zögert.
Alt: Arm schwer hängt, Hand sucht.
Jetzt verlange ich eine „schöne“ Übersetzung im Stil Hans Bethges (frühes 20. Jahrhundert).
ALT GEWORDEN
Einst, in den Tagen der Jugend,
fiel der Tiger unter meinem Pfeil.
Ich ritt das weite Pferd
durch Wind und offenes Land
und spannte den schweren Bogen
wie ein Lied aus Kraft.
Jetzt ist der Abend da.
Schon vor der Schwelle der Tür
zögert mein Schritt.
Ein anderer Arm muss mich halten,
denn die Jahre
haben mir die Kraft des Arms genommen.
Wenn wir so weit gekommen sind, warum nicht eine Rückübersetzung in die klassische Form? Auch das scheint kein Problem. KI präzisiert meine Frage: „Gut. Dann eine klassische Fassung im Song-Stil, nicht modernistisch, sondern literarisch geschlossen, als 五言绝句 (fünf Zeichen pro Zeile, Vierzeiler), ruhig, altersmelancholisch, ohne heroische Pose:
已老
少時射猛虎
駿馬踏長風
今日出門步
須人扶我臂
Sieht doch gut aus.
Ich widme diesen letzten Beitrag des alten Jahrs meinen treuen Lesern, von denen manche fast täglich reagieren, manche seit vielen Jahren. Ihr seid toll!
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