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Noch einmal Rilke. Felix Philipp Ingold hat in seine zweisprachige Anthologie „»Als Gruß zu lesen«. Russische Lyrik von 2000 bis 1800“ (Dörlemann 2012) auch eines der von Rilke original auf Russisch geschriebenen Gedichte aufgenommen. Ingold schreibt im Anhang:
Rilkes Interesse an Rußland und an der russischen Sprache geht auf Anregungen seiner damaligen Freundin Lou Andreas-Salomé zurück, mit der er zusammen 1899/1900 das Zarenreich bereist. In Moskau, Petersburg und anderswo lernt er Literaten, Künstler, Kritiker kennen. Mit großer Einfühlung rezipiert er die »russischen Dinge«, über die er später in Vers und Prosa schreiben wird, und seine Sprachkompetenz reicht offenbar bereits dazu aus, Texte von Dostojewskij, Tolstoj, Tschechow aus dem Original ins Deutsche zu übersetzen. Zwischen den beiden Reisen verfaßt Rilke (Ende 1900 in Schmargendorf) einige grammatikalisch wie orthographisch zwar mangelhafte, künstlerisch aber durchaus ansprechende Gedichte, die er drei Monate danach durch zwei weitere, formal deutlich stärkere Texte ergänzt. Die titellosen Texte gelten in der Rilkeforschung gemeinhin als Entwürfe oder Fragmente, doch nichts spricht dagegen, sie als abgeschlossene Gedichte zu betrachten; eines davon – »Ermattet …« (»Ja tak ustal …«, 1901) – erscheint hier in deutscher Nachdichtung beziehungsweise in deutscher Rückübersetzung aus dem Russischen. Zweierlei ist an diesem Text – die originale vorrevolutionäre Orthographie mitsamt Rilkes sprachlichen Fehlern wurde beibehalten – bemerkenswert: Einerseits entsprechen seine Intonation und Metaphorik unverkennbar der von Rilke gleichzeitig in deutscher Sprache verfaßten Lyrik, andererseits läßt er (genauso wie die übrigen russischen Gedichte) keinerlei thematischen Bezug zu Rußland erkennen – die »russischen Dinge« bleiben ausgespart in einem Sehnsuchtsraum, doch ihre Aura wird lyrisch vergegenwärtigt, und dies mit impliziter Bezugnahme auf Johann Wolfgang von Goethes Erlkönig-Gedicht.
Rainer Maria Rilke
(* 4. Dezember 1875 in Prag; † 29. Dezember 1926 im Sanatorium Valmont bei Montreux, Schweiz)

Ermattet ...
Ermattet von der Last der Schmerzenstage
erfahre ich die leere Nacht, die ohne Klage
aus fernem Feld auf meine stillen Augen fällt.
Mein Herz hat sich zur Nachtigall gesellt,
doch fehlen ihm für deren Lied die Worte;
mir ist, als ob ich nur mein Schweigen hörte –
es wächst heran wie Angst in tiefer Nacht,
verdüstert sich zu einem allerletzten Ach!
– das Kind ist fort, der Tod hat's weggebracht.
11. April 1901
Aus dem Russischen von Felix Philipp Ingold
Ingold gelingt eine Nachdichtung unter weitgehender Bewahrung des Silbenmaßes (überwiegend zehn oder elf Silben) und des Reims mit leichter Vereinfachung: im Original reimen die ersten 4 Silben aufeinander. Auch am Schluss gibt es eine kleine Umstellung.
Hier der Versuch einer volkstümlichen aussprachenahen Transliteration mit Unterscheidung von stimmhaftem/stimmlosem s- und sch-Lauten: z/s und sh/sch sowie mit Betonungsstrichen:
Ja ták ustál ot tjáshby bolných dnjéj,
pustája nótsch bezwétrjennych poljéj
leshít nad tíschinoi móich otschéj.
Moj sérdtse natschinál kak solowéj,
no doskazát ne mógh swoí slowá;
tepér moltschánije swójo slýschu já —
onó rastjót kak w nótschi strách,
temnéjet kak poslédnij ách
zabýtawo umerschawó rebjónka.
Ich habe die KI beauftragt, die Qualität von Rilkes Russisch zu bewerten.
Seine Beherrschung der Sprache war passiv gut, produktiv aber begrenzt – und das merkt man.
(A) Grammatik
Stärken
* Die syntaktische Struktur ist meist korrekt.
* Viele Wendungen sind idiomatisch gut getroffen („лежит над тишиной моих очей“ ist poetisch akzeptabel).
* Genitivkonstruktionen funktionieren.
Schwächen / Auffälligkeiten
* тяжьбы больных дней ist ungewöhnlich; richtig wäre „тяжбы больных дней“ ohne ь nach ж; Bedeutungswahl wirkt fremd.
* свой слова ist grammatisch falsch → müsste „свои слова“ sein.
* оно растет как в ночи страх ist semantisch holprig; ein Russischsprachiger würde eher eine Umstellung wählen.
* последний ах ist semantisch möglich, aber wirkt extrem untypisch, fast unbeholfen.
* забытого умершего ребенка ist möglich, aber die Kombination ist eher unbeholfen als poetisch wirkungsvoll.
Gesamturteil Grammatik:
➡️ nicht fehlerfrei, aber verständlich; deutlich Nicht-Muttersprachler.
(B) Orthografie
* Original folgt korrekt der prä-revolutionären russischen Rechtschreibung: End-ъ nach Wörtern: правильно – ѣ (ять): richtig verwendet, betrifft bestimmte lexikalische Traditionen.
* Einige Inkonsequenzen wirken aber wie Fehler eines Lernenden.
➡️ weitgehend korrekt, kleinere Inkonsequenzen.
(C) Wortwahl & Stil
* Rilke versucht sichtbar, russische Symbolisten zu imitieren (Balmont, Belyj, frühe Blok-Töne).
* Viele Wörter sind treffend, aber Kombinationen wirken künstlich, manchmal schwerfällig.
* Man merkt, dass er eher „übersetztes Rilke-Deutsch“ in russischer Form schreibt.
➡️ poetisch ambitioniert, aber stilistisch nicht idiomatisch russisch.
(D) Metrik
Rilke strebt klar einen jambischen Fünfheber an (klassische russische Form). Aber:
* Betonungen stimmen häufig nicht.
* Syntax erzwingt metrisch harte Brüche.
* Muttersprachliche russische Lyrik dieser Zeit klingt wesentlich fließender.
➡️ metrisch unsauber; manchmal gelingt der Rhythmus, oft nicht.
Gesamturteil über Rilkes russisches Gedicht
Literarische Qualität:
* hoch als historisch-biografisches Dokument,
⚠️ mittel bis schwach als russisches Gedicht.
Es ist deutlich spürbar, dass Rilke nicht in der russischen poetischen Tradition zuhause war. Er denkt in deutscher Bildsprache und baut diese in russische Grammatik ein – oft etwas gezwungen, aber mit intensiver emotionaler Authentizität.
Aber: vielleicht hätte gerade diese Unbeholfenheit (Fremdheit) den russischen Formalisten gefallen?
Zum Schluss noch zwei maschinelle Übersetzungen, die auf unterschiedlichen Wegen näher am Wortsinn sind.
Ich bin so müde von der Last der kranken Tage;
die leere Nacht der windlosen Felder
liegt über der Stille meiner Augen.
Mein Herz begann wie eine Nachtigall,
doch konnte es sein Wort nicht aussprechen;
jetzt höre ich seine Stille –
sie wächst wie in der Nacht die Angst,
verdunkelt sich wie der letzte Seufzer
eines vergessenen, sterbenden Kindes.
(ChatGPT)
Ich bin so erschöpft von den Tagen der
Krankheit; die leere Nacht windstiller
Felder liegt über dem Schweigen meiner
Augen. Mein Herz begann wie eine
Nachtigall, doch konnte es seine Worte nicht
vollenden; nun höre ich sein Schweigen –
es wächst wie die Angst in der Nacht, verdunkelt sich
wie der letzte Atemzug eines
vergessenen, toten Kindes.
(Google Übersetzungs-App)
ich bin so müd von schweren kranken tagen die still auf meinen augen lagen in leerer nacht auf unbekanntem feld. mein herz hebt an als nachtigall zu schlagen, doch fehlen ihm die worte halt, so hör ich mir das schweigen an. es wächst die nacht, vergessen ächzt ein kind ein letztes mal.
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