Jean Paul zum 200. Todestag

637 Wörter, 3 Minuten Lesezeit.

Jean Paul 

(auch Jean Paul Friedrich Richter, * 21. März 1763 in Wunsiedel; † 14. November 1825, heute vor 200 Jahren, in Bayreuth)

Zum 200. Todestag Jean Pauls hier ein Blick auf eine seiner kuriosesten literarischen Formen: die Polymeter, auch Streckverse genannt.

Erfunden wurden sie nicht in einem theoretischen Traktat, sondern im Roman Flegeljahre (1804/05), wo die Figur Walt Harnisch für die fiktive Zeitung Haßlauer Kriegs- und Friedens-Bote eine neue Art „rhythmischer Prosa“ präsentiert – Texte, die nur aus einem einzigen, reimlosen Vers bestehen, der sich nach Belieben auf Seiten- und Bogenlänge „streckt“.

Jean Paul führt die Form mit sichtlicher Ironie ein, doch die Polymeter wurden im 19. und 20. Jahrhundert tatsächlich literarisch rezipiert und nachgeahmt (u. a. von Wolfgang Menzel, Georg Kulka, Paul Ernst, Günter Eich). Damit bilden sie eine bedeutende Nebenlinie des Prosagedichts – halb poetische Reflexion, halb formales Spiel.

Besonders berühmt wurde die Gattung durch ihre musikalische Rezeption:

Robert Schumann las die Flegeljahre, war von den Polymetern so beeindruckt, dass er seinen Klavierzyklus „Papillons“ op. 2 auf Szenen des Romans bezog und in Briefen sogar die Vision einer „Oper ohne Worte“ formulierte.

Ein Polymeter kann streng metrisch markiert sein – Jean Paul druckt sogar ein komplettes metrisches Schema –, doch er empfiehlt zugleich, die Texte nicht in Zeilen zu zerschneiden, sondern als „arm-lange Papierwickel“ zu lesen, als fließenden, atmenden Rhythmus.

Meyers Konversationslexikon fasst 1889 trocken zusammen:

Streckverse seien „rhythmische Prosa“, kurze, oft überschwängliche Satzgebilde, die poetische Empfindung ausdrücken.

So oszillieren Jean Pauls Polymeter bis heute zwischen Formversuch, Parodie, Prosagedicht und poetischem Manifest – ein kleines Seitenstück seines Werks, aber eines voller Lebendigkeit, Freiheit und Experimentierlust.

Einige Streckverse

Der Tod unter dem Erdbeben

Der Jüngling stand neben der schlummernden Geliebten im Myrtenhaine, um sie schlief der Himmel, und die Erde war leise – die Vögel schwiegen – der Zephyr schlummerte in den Rosen ihres Haars und rückte kein Löckchen. Aber das Meer stieg lebendig auf, und die Wellen zogen in Herden heran. ›Aphrodite,‹ betete der Jüngling, ›du bist nahe, dein Meer bewegt sich gewaltig, und die Erde ist furchtsam, erhöre mich, herrliche Göttin, verbinde den Liebenden ewig mit seiner Geliebten.‹ Da umflocht ihm mit unsichtbarem Netze den Fuß der heilige Boden, die Myrten bogen sich zu ihm, und die Erde donnerte, und ihre Tore sprangen ihm auf. – Und drunten im Elysium erwachte die Geliebte, und der selige Jüngling stand bei ihr, denn die Göttin hatte sein Gebet gehört.«

*) Bekanntlich ist vor dem Erdbeben meist die Luft still, nur das Meer woget.

»Bei einem brennenden Theatervorhang

Neue erfreuliche Spiele zeigtest du sonst, stiegst du langsam hinauf. Jetzt verschlingt dich schnell die hungrige Flamme, und verworren, unselig und dampfend erscheint die Bühne der Freude. Leise steige und falle der Vorhang der Liebe, aber nie sink‘ er als feurige Asche auf immer darnieder.

Die nächste Sonne

Hinter den Sonnen ruhen Sonnen im letzten Blau, ihr fremder Strahl fliegt seit Jahrtausenden auf dem Wege zur kleinen Erde, aber er kommt nicht an. O du sanfter, naher Gott, kaum tut ja der Menschengeist sein kleines, junges Aug auf, so strahlst du schon hinein, o Sonne der Sonnen und Geister!

Der Tod eines Bettlers

Einst schlief ein alter Bettler neben einem armen Mann und stöhnte sehr im Schlaf. Da rief der Arme laut, um den Greis aus einem bösen Traum aufzuwecken, damit den matten Busen nicht die Nacht noch drücke. Der Bettler wurde nicht wach, aber ein Schimmer flog über das Stroh; da sah der Arme ihn an, und er war jetzt gestorben; denn Gott hatt‘ ihn aus einem längern Traum aufgeweckt.

Die alten Menschen

Wohl sind sie lange Schatten, und ihre Abendsonne liegt kalt auf der Erde; aber sie zeigen alle nach Morgen.

Der Schlüssel zum Sarge

›O schönstes, liebstes Kind, fest hinunter gesperrt ins tiefe dunkle Haus, ewig halt‘ ich den Schlüssel deiner Hütte, und niemals, niemals tut er sie auf!‹ – Da zog vor der jammernden Mutter die Tochter blühend und glänzend die Sterne hinan und rief herunter: ›Mutter, wirf den Schlüssel weg, ich bin droben und nicht drunten!‹«

Mehr über diese Form im Lyrikwiki

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