Dieses eine lange Gedicht

Ulrich Koch

DIESES EINE LANGE GEDICHT, IN DEM WIR AUFGEWACHSEN SIND

Dieses eine lange Gedicht, in dem wir aufgewachsen sind,
begann an einem sonnigen Tag
kurz nach der Mitte des Lebens.
Die erste Hälfte war so groß gewesen,
dass wir sie heimlich lasen.

Dann wuchsen die Pfade hinunter zum Fluss allesamt zu.
Auf den Klingelschildern erblindeten die Namen
durch gepanschten Schnaps.

Je müder wir wurden, umso näher
kamen die Tiere
an uns heran.

Um wach zu bleiben, rochen wir
an den Mänteln der Abwesenden.
Wir kommunizierten mit ihnen über Rückkopplungen,
wie Berge.

In den Mittagspausen standen wir an Stehtischen
und saugten das Gift aus Bisswunden.

In den gestrandeten Walen wuchs der Zweifel:
Sie lagen in zugeparkten Alleen und atmeten schwer
unter blühenden Kastanien.

In den aufgegebenen Gärten
standen die Schaukeln in ihren Betonschuhen
und sahen aus wie Richtstätten
wie früher die Richtstätten wie Schaukeln.

Hatte jemand sein Hemd schief geknöpft,
gab es Schnee.

Manchmal war es so still, wir hörten
jemand auf dem Mond auf einen Zweig treten.

Abends bildeten unsere Sätze Schlafgesellschaften,
Fetzen, die zu schwarzen Wolken verwehten
und trieben, bis sie sich niederließen
in einem unserer abwegigsten Gedanken.

Unsere Gesichter auf den alten Gruppenfotos drehten sich ins Licht
wie Sonnenblumen.

Der Weizen wuchs auf Augenhöhe der Beichtstühle.

Wir waren blass vom Nachtlicht der Telefonzellen
und dufteten nach Sonnenöl.

Wenn von der Bahnlinie hinter dem Forst die Züge zu hören waren,
gab es am nächsten Morgen Regen.
Die Birken neben dem Bahndamm
hörten auf die Geburtsnamen schlesischer Mädchen.

Aus: Ulrich Koch, Dies ist nur der Auszug aus einem viel kürzeren Text. Gedichte. Salzburg: Jung und Jung, 2021, S. 17f

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