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Zoltán Lesi
INAKTIVES X
Ein unterbrochenes Interview mit Heinrich Ratjen
Das Barr-Körperchen ist
ein Sex-Chromatin. Zum Ausgleich
der Verhältnisse wird es
stillgelegt, damit bei Frauen
wie bei Männern nur eines der
X-Chromosomen aktiv bleibe.
Kondensiert das andere Gebilde,
wird die genetische Information
für die Proteine unerreichbar.
Vor allem meide ich die Sportnachrichten,
aber ich lese auch generell keine Zeitungen.
Dann serviere ich schon eher
am Schalter und besuche am Wochenende
meine Schwestern. Manchmal kommen
Journalisten zu mir, aber ich gebe
keine Interviews. Es ist nicht meine Aufgabe,
Ungereimtheiten zu klären. Ein Reporter
heftete sich regelrecht an meine Fersen,
deshalb log ich, die Nazis hätten mich
zu allem gezwungen und mir Medikamente
verabreicht. Das war es doch, was
das Vierauge hören wollte – ich wollte nur,
dass er endlich abhaut.
Das inaktive X-Chromosom schmiegt
sich der Membran des Zellkerns an.
Mit dem Barr-Test lässt sich
das Geschlecht des Individuums
anhand der zahlenmäßigen Abweichungen
der Sex-Chromosomen durch
ein Mikroskop feststellen.
Die Methode ist jedoch nicht alleinig
für das Ergebnis ausschlaggebend.
Dieses wird bestätigt, indem
ein humanes Karyogramm angelegt wird.
In diese Sache wollte ich mich später
auch wegen Kłobukowska nicht
einmischen. Sie hatte ja keine Ahnung,
dass sie etwas anderes sein könnte
als eine Frau, dennoch hielten sie alle
für eine Betrügerin, weil sie als
Hermaphrodit an einem Frauenwettbewerb
teilgenommen hatte. Natürlich war dann
auch mein Fall wieder in aller Munde.
Die Unsicherheit lässt sich einerseits
darauf zurückführen, dass das Barr-Körperchen
mit anderen biologischen Strukturen
verwechselbar ist, andererseits muss
der Zellkern passend angeschnitten werden,
damit das Sex-Chromatin gut erkennbar ist.
Trotz der Unzuverlässigkeit dieser
Untersuchungsmethode wurden
zur Enttarnung intersexueller Sportlerinnen
jahrzehntelang Barr-Tests durchgeführt.
Eine ganze Wissenschaft hatte sich
zu diesem Thema entwickelt.
All das Gefasel über Chromatine –
doch Tatsache ist, Kłobukowska
wurde zum Mann erklärt,
und ein Jahr später brachte sie
ein Kind zur Welt.

Aus:
in Frauenkleidung
Zoltán Lesi
Übersetzung Nora Keszerice. Salzburg: edition mosaik, 2021 (2. Aufl.), S. 71ff
Heinrich „Heinz“ Ratjen (* 20. November 1918 in Erichshof; † 22. April 2008 in Bremen) war ein intergeschlechtlicher deutscher Leichtathlet. Unter dem Geburtsnamen Dora Ratjen nahm er 1936 an den Olympischen Spielen in Berlin am Hochsprungwettbewerb der Damen teil und erreichte Platz vier. 1938 sprang Ratjen Frauen-Weltrekord und wurde Europameisterin. Im selben Jahr endete die sportliche Karriere als Frau. Anfang 1939 wurde Ratjens formaljuristisches Geschlecht (vergleiche Personenstand) auf „männlich“ und sein Vorname auf „Heinrich“ geändert. https://de.wikipedia.org/wiki/Heinrich_Ratjen
Heinrich Ratjen (20 November 1918 – 22 April 2008), born Dora Ratjen, was a German athlete who competed for Germany in the women’s high jump at the 1936 Summer Olympics at Berlin, finishing fourth, but was later determined to be male and/or intersex. In some news reports, he was erroneously referred to as Hermann Ratjen and Horst Ratjen. https://en.wikipedia.org/wiki/Heinrich_Ratjen
Dora Ratjen, ou Hermann Ratjen, ou Horst Ratjen (20 novembre 1918 – 22 avril 2008), est un athlète allemand intersexe qui a concouru dans la catégorie femme durant l’entre-deux-guerres, terminant notamment quatrième dans le saut en hauteur féminin aux Jeux olympiques d’été de 1936 à Berlin, avant d’être désigné comme homme intersexe et déchu. https://fr.wikipedia.org/wiki/Dora_Ratjen
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