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Am 30. Mai 1876 unterzeichnete Zar Alexander II. im deutschen Kurort Bad Ems den sogenannten Emser Erlass – ein Dokument, das die ukrainische Sprache aus dem öffentlichen Raum verbannen sollte. Ukrainische Bücher durften fortan weder gedruckt noch importiert werden, Lieder nicht mit Noten veröffentlicht, Theaterstücke nicht mehr aufgeführt werden. Die Absicht war klar: Ukrainisch sollte nicht mehr sichtbar, hörbar, denkbar sein – ein Werkzeug imperialer Assimilation. Im Russischen Reich sollte Russisch die alleinige Kultursprache sein. Erst nach der Revolution von 1905 wurde der Erlass teilweise aufgehoben.
Aber die ukrainische Literatur konnte man nicht mehr ungeschehen machen. Und es war gerade die Lyrik, die das sprachliche Überleben sicherte. Darüber spricht Juri Andruchowytsch in einem kurzen Vorwort zu der Sammlung „Der Klang von Sonnenklarinetten“, aus der ich heute ein Gedicht von Pawlo Tytschyna ausgesucht habe. Das Gedicht entstand 1920, das Thema ist bis heute brennend aktuell.
Antistrophe
Flugzeuge und die Wunder der Technik – wozu
dienen sie, wenn die Menschen einander nicht
ins Gesicht schauen?
Werft die Erzürnten nicht ins Gefängnis; sie sind
sich selber Gefängnis.
Universitäten, Museen, Bibliotheken
können nicht so viel geben wie
braune,
graue,
blaue Augen ...
1920
Aus dem Ukrainischen von Adrian Wanner, aus: Der Klang von Sonnenklarinetten. Drei Lyriker der ukrainischen Moderne. Zürich: Pano Verlag, 2008, S. 47
Антистрофа
Аероплани й усе довершенство техніки – до
чого це, коли люди одне одному в вічі не
дивляться?
Не хватайте озлоблених у тюрми: вони самі
собі тюрма.
Університет, музеї й бібліотеки не дадуть того,
що можуть дати
карі,
сірі,
блакитні ...
Ebd. S. 46
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