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Olga Martynova (Ольга Борисовна Мартынова) wurde am 26. Februar 1962 in Sibirien geboren und lebt in Frankfurt am Main. Sie ist eine russisch-deutsche Lyrikerin, Essayistin und Übersetzerin. Anfang April wird sie in Staufen mit dem Peter-Huchel-Preis für ein herausragendes Gedichtbuch des Jahres 2024 ausgezeichnet. Such nach dem Namen des Windes heißt es. Ich komme erst jetzt dazu, es zu lesen, und wie sollte ich mich nicht gleich in das erste Gedicht verlieben, noch bevor ich den Rest lese?
Vu nemt men a bisele Glik
Weh mir, wo nehm ich
die Suppe,
im Winde die Fahnen dünn,
wehs mir
so oder so,
und der Kapo
im Schatten der Erde.
Die im Winde klirrenden »links«.
Und der Kapo trunken von Küssen:
Vu nemt men a bisele mazl.
Dünn waren die Fahnen.
Wehs mir, vu nehm ich,
wenns Winter ist,
Rosen a bisele,
mazl a bisele,
Schatten, a bisele
Erde, a bisele glik.
Wehs mir, vu nemt men
gelbe Birnen
und wilde Suppe,
a bisele Wasser,
und der Schatten brüllt,
wo nehm ich a bisele
mazl, wenns Winter und Blumen,
und Sonnenschein, wehs mir,
die Mauern stehn
im Schatten der Erde.
A bisele Erde
im Schatten des Gliks.
Das Gedicht transzendierte die Wirklichkeit nicht
mehr. Da stand es und war nur noch sachliche
Aussage: so und so, und der Kapo brüllt »links«,
und die Suppe war dünn, und im Winde klirren
die Fahnen.
JEAN AMÉRY
... подойдет голубь, скажет – гёльдерлин ...
... tritt die Taube hinzu, gurrt – Hölderlin ...
OLEG JURJEW
Übers. von Steffen Popp
Vu nemt men a bisele mazl,
Vu nemt men a bisele glik.
Jiddisches Lied
Aus: Olga Martynova: Such nach dem Namen des Windes. Gedichte. Frankfurt/Main: S. Fischer, 2024, S. 9f
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