Kultur

Gern präsentiere ich einen Text von Konstantin Ames als Nachtrag zum 90. Geburtstag von Renate Rasp (*3. Januar 1935 in Berlin; † 21. Juli 2015 in München) 

„Er ist fünfundvierzig.“ Seelisches Schreiben von Renate Rasp zu ihrem 90.

Die Diktion hier könnte so oder so ähnlich auch im ÖPNV zu hören sein. Wer gewohnt ist, solche sozialen Nahbegegnungen konsequent zu meiden, sollte sich eines besseren besinnen.

Leute, die mit dem Kopf schreiben, zu bewundern, ist gar nicht schwer. All die Akrobatik. Die Nasenlöcher, die ihre Kegels und Rümpfbeugen gemacht haben müssen. Die damit Fliegenklatschen schwingen wie andere Baseballschläger. Ich schreibe, für einige unbegreiflich, mit den Händen, die sind also immer wach. Das gilt nun nicht viel. Es galt aber einmal halb so wenig. Als ich 2004 von der Ostsee bei Greifswald weg musste, landete ich in Leipzig. Leipzig hat viele Nachteile, von denen nicht wenige die gleichen Namen tragen wie einige blasierte Autorinnen und -toren; Leipzig hatte aber auch Antiquariate. Dort fiel mir, auf der Suche nach wirklich unpraktischen Existenzzulagen, ein Gedichtband der mir damals noch unbekannten – weil in Vergessenheit geratenen – Renate Rasp († 2015) in die Hände, Titel: „Eine Rennstrecke“. Darin findet sich auf Seite 17 ein Poem mit dem spröden Titel „Kultur“. Damals konnte ich Enzensbergers „Die Scheiße“ noch auswendig, so war die Eröffnung von „Kultur“ („Bevor er/ zum Scheißen geht“) kein Hindernis; überhaupt nicht primitiv oder reaktiv oder was ein zartes Seelchen sonst ankotzen könnte. Meist brauchz zur benevolenten Lektüre ja eh bloß ein wenig Bildung mehr als zunächst gedacht. Die für sich natürlich auch wieder nicht reicht; nicht einmal die vielbeschworene beschissene Kindheit tuz da, es braucht auch das Sensorium (Talent) für diese eine verstörende existenzielle Erfahrung, komplett infrage zu stehen, aus den Angeln gehoben zu werden. Sonst verkackt es sich allzu leicht. Beim Leben. Beim Lesen. Beim Ausdünsten. Beim Kunsten. Man kann dann trotzdem eine Zeitlang interessant, und auch mal eine Saison im Fokus, sogar Teil oder Anbau der Fokusgruppe sein, bleibt dabei aber ein privilegienblinder Dutzendmensch und auchn bisschen ein dröger Antiquitätenfuzzi. Wer nicht verkappt ehrgeizig und akademiegängig drauf ist, fängt sich schnell eine Fliegenklatsche, weil er eine „Ättitjud“ hat. Man nennt ihn – liberal-sozialistisch wie man nun einmal ist – „Nerd“, „Ästhetizist“ oder „Kleinunternehmer“. (…) Irgendwas muss schließlich hängen bleiben. Gilt es doch, eine mindestens gefühlte, wenn schon nicht ausgesprochene, Leitkultur zu verteidigen. Und jetzt endlich Text!

Kultur

Bevor er
zum Scheißen geht
stellt er das Radio
auf eine bestimmte Lautstärke
oder legt Bob Dylan auf.
Aber ich höre ihn trotzdem
sehe wie es sich
dunkelbraun
aus seinem Arsch
herausdrückt.
Ich sehe es liegen
in dem weißen Becken
von der Brille ein-
gerahmt und mir fallen
viele Dinge ein die
so ähnlich sind.
Er ist fünfundvierzig.
Im Schmetterlingsstil
schwimmt er durch seinen
eigenen Mist von klein auf.
Das ganze Zimmer ist voll.
Um die Platte abzustellen
müßte er
tauchen können.

Ich werde den Teufel tun, über meine eigenen Meeresgrund-Erfahrungen zu berichten. Aber einige dieser Erfahrungen – weil man sie selbst so oder so ähnlich hatte, erkennt man sie – finden sich im Buch der abartigen Weisheiten, das Renate Rasp mit ihrem Fimmel für Homewrecking, Schaftstiefel, Splatter in ein programmatisch überforderndes Buch gepackt hat, dem der Titel „Eine Rennstrecke“ nicht recht ansteht. Das hat womöglich aber der Verlag versaubeutelt. Das titelgebende Gedicht im Buch ist gleichsam der einzige Streichkandidat, erkennbar an einem Schlusssatz wie diesem: „Jeder soll selbst sehn!“ Jenau. Rasps Gedichtdebüt versammelt aber auch einige drastische und zugleich emotional absolut sichere Gedichte: „Jack the Ripper“ (S. 12), „Rest“ (S. 54), „Bildnis“ (S. 60), zugleich das Schlussgedicht. Und eben „Kultur“. Gibt Gerüchte, dass es sich bei diesem Epigramm um eine übelriechende Note an einen seinerzeit umstrittenen Literaturmoderator handelt. Der so denkbar abschätzig Angeredete muss Jahrgang 1933 oder 1934 sein, zieht man vom Erscheinungsjahr (1969) das genannte Alter („fünfundvierzig“) ab; der Herstellungsprozess des Buches will bedacht sein; Erscheinungsjahr heißt nicht Entstehungsjahr. Nun, ich gebe nichts weiter auf den Gossip, sondern beziehe den galligen Spott – weil ich unmöglich gemeint sein kann – noch einmal, so wie in den 2000er Jahren, probeweise auf mich, der gerade selbst beschissene 45 Jahre alt ist. Hm. Aha. Ich mag immer noch, und mehr denn je, Texte, die mich – aber bitte nicht unter Niveau – angehen. Das sind Texte, die mir maximale Ironiefähigkeit zugestehen, die nicht mein Einverständnis wollen, sondern mich zu einer Positionsbestimmung anhalten. Pathos lässt sich nicht konstellieren; und nur falsches Pathos lässt sich zerdeppern. Seelischem Schreiben, im Gegensatz zum Interessantismus des Kreativen bzw. Professionellen bzw. Literarischen und dann Preistragenden Schreibens, kann kein noch so umtriebiger Zehnminuten-Poetiker etwas anhaben … „Kultur“ von Renate Rasp, 1979 vom bundesrepublikanischen Feuilletonrudel (m) gerufmordet, ist Seelisches Schreiben. Sie hätte im Jahr 2011 ein Comeback feiern können. Aber es hätten wohl nicht Männer, die sie hasste, sein dürfen, die ihr die Tür zur Betriebshalle aufhalten. Auch und gerade zur mangelnden Solidarität unter Frauen hat die Rasp sehr deutliche Worte gefunden. Aus guten Gründen. Im Gespräch mit einer Kollegin, die nur um ein weniges jünger ist als die 1935 in Berlin geborene Renate Rasp, habe ich über deren Werk und Haltung ein Maß an Missgunst, Ablehnung und Nicht-Verstehen-Wollen erfahren, das traurig stimmte. Ich empfand die Rasp zwar als äußerst barsch im Umgang, halte aber dafür, dass Frauen auf schlechtes Benehmen gleiche Rechte haben wie Männer. Im persönlichen Umgang anstrengend sein dürfen, ohne dafür als Künstlerin (hier wie immer: w/d/m) verurteilt zu werden, das erwarte ich von einer Kollegenschaft, sofern professionell. Die Trennung von Werk und Künstler aufzugeben, braucht es schon sehr gute Gründe und Anhaltspunkte: Verrat, Narzissmus und andere allgemeine Menschenfeindlichkeit, Kapitalverbrechen.

Gegenprobe: Als eine hochgeschätzte Kollegin mir recht öffentlich ein Gedicht von Rasp um die Ohren haute, war das vitalisierend. Gruppierte, in diesem Fall die AG Trauma a.k.a. Gruppe 47, fühlten sich von Rasps Schreibart ›an die Wand geschrieben‹. So zu lesen im weitgehend überarbeitungswürdigen Biogramm (KLG). Warum denn nicht gleich an die Wand gestellt? Dabei ergehen von diesen Texten doch bloß Herausforderungen zum Duell. Die Duellsituation ist aber auch so eine Erfahrung, die vielen urbanen Großschnäuzchen komplett abgeht. Lieber  f ü h l t  man sich gemeint, und ist tödlich beleidigt; ganz schön bürgerkinddichterlich. Puh. Schnell und abschließend ein Wort zur Auswahl: Ich hätte auch einen der drei o.g. Texte auswählen können, aber „Kultur“ passt auf die bange Stimmung angesichts der neowilhelminischen Zuständen im heutigen Gerne-Aber-Nicht-Mehr-Lange-Groß-Berlin wie Arsch auf Eimer. Jetzt haben wir die Cultur, kompetitiv wie eh und je, aber dafür stilvoll und gefühlsecht wie Oktopussalat.

Vorsatzgestaltung aus dem zitierten Band: Renate Rasp, Eine Rennstrecke. Gedichte. Kiepenheuer & Witsch, Köln / Berlin 1969.

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