Gedicht & Kirchenfenster

Ein Gedicht des alten Goethe, in einem Sammelband 1827 veröffentlicht, 5 Jahre vor seinem Tod, fällt mir manchmal ein, wenn ich bei Tag in eine Kirche gehe und das Licht der bunten Kirchenfenster sehe.

Parabolisch 1

Gedichte sind gemalte Fensterscheiben!
Sieht man vom Markt in die Kirche hinein
Da ist alles dunkel und düster;
Und so sieht's auch der Herr Philister:
Der mag denn wohl verdrießlich sein
Und lebenslang verdrießlich bleiben.

Kommt aber nur einmal herein!
Begrüßt die heilige Kapelle;
Da ist's auf einmal farbig helle,
Geschicht' und Zierrat glänzt in Schnelle,
Bedeutend wirkt ein edler Schein;
Dies wird euch Kindern Gottes taugen,
Erbaut euch und ergetzt die Augen!

Aus: Goethe, Gedichte 1800-1832. Hrsg. Karl Eibl. Darmstadt: Wissenschaftliche Buchgesellschaft, 1988, S. 542

Anmerkung: „Bedeutend“ ist hier nicht einfach ein plattes Prahlwort, sondern wörtlich zu verstehen: es (das Fenster, das Gedicht) „bedeutet“ etwas (nämlich wenn man es nicht von außen betrachtet und auslegt, sondern hineingeht und schaut).

Heute aber ging ich kurz vor Mitternacht an der Greifswalder Nikolaikirche vorbei, draußen Dezembernacht, das Innere festlich beleuchtet. Da fiel mir ein, dass Goethes Gedicht auf der wörtlichen Ebene nur bei Tag stimmt. Geht man nämlich nachts in die Kirche hinein (das geht hierzulande nur bei einem Konzert oder einem nächtlichen Gottesdienst, wie er im Norden höchstens zu seltenen Feiertagen vorkommt), sind die Fenster im Inneren stumpf. Aber von draußen! Die folgenden Bilder, rechts Kirchenfenster bei Nacht von innen, links gestern Nacht von außen (links steht ein Baugerüst vor dem Nachbarhaus).

Was lernen wir daraus? Goethe war nur bei Sonnenschein in der Kirche.

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