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Für das heutige Gedicht habe ich mich entschieden, weil mir beim Blättern in einem Buch die Ähnlichkeit einer Überschrift mit dem Gedicht von gestern auffiel: „Und ihr Gestorbensein erfüllt sie mit Glanz“. Nur mit etwas verschobenen Personenrollen. Gestern hieß es, „ihr Tod / schlug ihn mit Weisheit; nun wuchs ihm Gewicht / zu durch den Schmerz“.
Kai Pohl
(Geboren 1964 in Wittenburg/ Mecklenburg, lebt in Berlin)
Und ihr Gestorbensein erfüllt sie mit Glanz
Was in diesem Gedicht steht, muß endlich einmal
gesagt werden. Der Text ist fast wörtlich übernommen,
kein Vers und kein Satzzeichen ist in diesem Gedicht
zuviel. Bereits die Überschrift trägt der aufkommenden
Stimmung Rechnung. Viel Hoffnung und Mut stecken
in diesem Gedicht. Das Gedicht kennt keine Arbeit.
In diesem Gedicht kommt das Wort Deutschland nicht
vor, dampft kein Kaffee und waltet kein Goethe. Es gibt
keinen Mittwoch in diesem Gedicht. Die Gedanken in
diesem Gedicht sind von Wasser geschliffene Steine,
TV-Zuschauer greifen zur Brecht-Gesamtausgabe, man
spürt ein negatives Verhältnis, Angst breitet sich aus.
Wodurch entsteht der Sarkasmus in diesem Gedicht?
Worin bitte besteht in diesem Gedicht der Sinn? Es
gibt weder Adressat noch Absender. Die geläufigen
Themen kommen darin nicht vor. Wovon ist in diesem
Gedicht die Rede? Welche Funktion hat die Bedeutung,
welche Funktion hat die Unterordnung? Die Ingredienzen
der Dichtung entsprechen der Darstellung in diesem
Gedicht, finanzielle Probleme werden nicht angesprochen.
In diesem Gedicht wird Oslo als unbarmherzige Stadt
beschrieben, der dunkel glänzende Wasserspiegel ist
zum Auge geworden, schwarz tropft der Tau von der
Weide, das sog. Welttheater ist unauffällig vorbeigehuscht.
Alles in diesem Gedicht ist in kreisende Bewegung
geraten, eine Ansammlung von Hausrat, Gerede,
schmucklosen Satzfetzen; Versäumnis waltet in diesem
Gedicht, die technologische Entfremdung der
Kommunikation. In diesem Gedicht ist Durst der
Urtrieb, der Mond wird wie ein Beruhigungsmittel
verwendet, die Hoffnung liegt im Weg wie eine Falle.
Was für ein Fehlgriff steckt in diesem Gedicht, was für
ein Fehlgriff! Sämtliche Anspielungen in diesem Gedicht
sind mißlungen, kein Funken Wahrheit in diesem Gedicht,
keine Schönheit hinter dem Schleier, nur Worte; Schritte
finden keinen Ausweg, es gibt keine Eingänge und
Ausgänge in diesem Gedicht. Überhaupt sieht man
schlecht in diesem Gedicht, die Luft ist blau vom Dunst
der Eindrücke; ein Nebel handelt nicht – der Mensch
projiziert! In diesem Gedicht erscheinen die Personen
nur noch als ihre häßlichen Attribute: grüne Zähne,
Pickel im Gesicht, Lidrandentzündung etc. Die in
diesem Gedicht verwendete Sprache ist keine Sprache,
die Zeilen sind durcheinander geraten, höchst
widersprüchliche Töne vermengen sich in diesem
Gedicht. Wang Wei legt seine weltlichen Gewohnheiten
ab, Morgenstern arbeitet mit Neologismen, auch Heine
stellt in diesem Gedicht seine Fähigkeit zu dichten
unter Beweis. Wir befinden uns offenbar in jener unreal
city von Eliot, Rimbaud parodiert die Form des Sonetts,
Eichendorff äußert seinen Wunsch, aus dem Spießertum
auszubrechen, immer wieder fällt der Name Shakespeare.
Trakl schildert einen Abend im Herbst, Pasternak malt
das Bild eines Schneegestöbers in einer Neujahrsnacht,
Wallace Stevens marschiert demütig bei der Beerdigung
von Otis Redding mit und hält seinen fetten Mund.
Ginsberg, okay. Aber ehrlich gesagt ist wenig von ihm
in diesem Gedicht. Er sieht nicht aus wie der junge Tom
Waits, kann aber schreiben wie Dylan. Charlie Brown
hat ebenfalls einen Auftritt, angeblich soll er in diesem
Gedicht den Vorgesetzten seines Vaters beleidigt haben.
Es geht noch weiter in diesem Gedicht: wenige Zeilen
später erreicht der Kurier die Höhlen des Veneto, die
Kamine sind schwarz und die Dächer undicht, das
Feuer wärmt nicht mehr.
Aus: Versnetze. Das große Buch der neuen deutschen Lyrik. Hrsg. von Axel Kutsch. Weilerswist: Ralf Liebe, 2008, S. 40-42
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