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Pommern und Dada – Kenner wissen da einiges. Die „Dada-Baroness“ Elsa Plötz alias Endell alias Greve alias Freytag-Loringhoven stammt aus dem Städtchen Swinemünde (heute Świnoujście). George Grosz stammt aus Stolp (Słupsk), und mit Richard Huelsenbeck und Walter Serner studierten zwei der Dada-Protagonisten in Greifswald. Und dann ist da noch Alfred Gruenwald alias Johannes Theodor Baargeld alias Zentrodada, geboren in Stettin (Szczecin). Freilich mussten sie alle Pommern verlassen, um Dada zu treiben. Elsa von Freytag-Loringhoven mischte die Kunstszene in New York auf, andere gingen nach Berlin oder Zürich. Baargeld wurde Mitbegründer von Dada Köln. Begraben ist er auf dem Kölner Melatenfriedhof (Flur 73a). Nach langer Verwahrlosung wird das Grab heute auf Privatinitiative gepflegt. Man erkennt es an Kleinmünzen, die immer darauf liegen. Im September hatte ich Gelegenheit, es zu besuchen und ein Trankopfer zu bringen.
Mit dem bürgerlichen Namen Alfred Emanuel Ferdinand Gruenwald wurde Baargeld am 9. Oktober 1892 im damals preußischen Stettin, heute Szczecin/Polen, geboren. Seine Schulzeit verbrachte er in Köln, wo sein Vater Heinrich Gruenwald als Generaldirektor einer Rückversicherungsgesellschaft wirkte. Der Vater war ungarisch-jüdischer Herkunft, die Mutter entstammte der Familie eines Stettiner Reeders und Großhandelskaufmannes.
Walter Vitt, ebd. S. 39
Das heutige Gedicht erschien im Februar 1919 in der von Baargeld herausgegebenen Zeitschrift „Der Ventilator“ (anonym, aber vermutlich vom Herausgeber, s.u.).
Johannes Theodor Baargeld
(* 9. Oktober 1892 in Stettin; † 18. August 1927 am Mont Blanc)
FEBRUAR IN MITTELEUROPA
Die Vorstädte wollen nicht mehr und gehn
In die blanke Stadt, die ihnen gehört.
Bis Aachen sind die Vorstädte umgelegt und geleert.
In Kiew blieb eine Brandmauer stehn,
Von den 6. Etage-Erfrischungssalonen
Der Kaufhäuser, von Dachbalkonen
Kann man die Brandmauer von Kiew sehn
Und davor den gehängten Mörder des General von Eichhorn!
Von Italien kommen Apfelsinen gerollt,
Die in Deutsch-Oesterreich hängen bleiben.
In den Meeren sich die ungefangnen Fische reiben.
Ein Heringsheer um Holland tollt.
Von Kopenhagen bis München
Suchen die Uhren einen Schlag –.
Ihr müßt die guten Menschen schneller lynchen!
Patrioten waschen ihr blutiges Stärkehemd für den Haag.
Die höheren Schichten machen Musik und Kunst,
Versicherungsbeamten streiken,
Die Sommerreisen sind verhunzt;
Geht doch wenigstens in unsere populären Symphoniekonzerte ...!
Spartákus duckt sich, wenn die Truppe kommt –
Die Bürger setzen ihren Meister wieder ein.
Der ohne klug zu werden hat gebrommt –,
Spartákus lauert, wann die Welt verkommt –
Und keiner will mehr Pfaffenlatein
Nirgendwo hören.
Von dem Lande,
Aus dem Sande
Flieht der Bauer
In das Stadtgemauer.
Lauer
Wird es den verantwortlichen Stellen zu Mut.
Ja, von Blut
Träumen in den Armen bei den Bräuten
In ihren satten dicken Volksmannshäuten
Die jammernden Volksmänner.
Von Weimar kommt wöchentlich noch ein Renner
Mit dem Kurszettel der Nationalversammlung
Seit der Generalversammlung
Der parlamentarischen Geleise.
Weise, weise
Nistet der Mitropa-Zug in Weimar.
Für den Kinotrust spielt Heimar
Sölljen angenagt den Kavalierropäer.
(Das Kino ahnt den Lauf der Welt!)
Damit es jenen Typus, eh' er
Zerplatzt, der Welt im Film erhält! –
(1919)
Aus: Johannes Theodor Baargeld: Texte vom Zentrodada. Herausgegeben von Walter Vitt. Siegen 1987 (Vergessene Autoren der Moderne XXX), S. 6f. Erstdruck: ‚Der Ventilator‘, Köln, Februar 1919, 1. Jahrgang, Nr. 4.
Das Gedicht ist dort anonym abgedruckt, doch spricht einiges für die Urheberschaft von Baargeld-Gruenwald, vor allem der anzutreffende Typus von Wortschöpfungen, die sich – so oder ähnlich – auch in anderen Versen dieses Autors finden: brommen statt brummen; Volksmannshäute; Kavalierropäer. (Baargeld-Gruenwald war Herausgeber des ‚Ventilator‘). (Anm. des Herausgebers Walter Vitt, ebd. S. 28).


Grab auf dem Kölner Melatenfriedhof
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