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Als russische Truppen in das Nachbarland Ukraine einmarschierten, machten sich einige von uns Sorgen um die – russische Kultur, ob der Westen sie jetzt ungerecht behandeln würde. Das wäre ehrenwerter gewesen, wenn sie auch gefragt hätten, ob es ukrainische Kultur und ukrainische Literatur gibt und ob – schweigen wir von den Kriegsschäden, die auch die ukrainische Kultur schon in den ersten Tagen erlitt – ob wir, ob sie sie gerecht behandeln.
Hier ein Gedicht des ukrainischen Dichters Iwan Dratsch aus einem Band der „Weißen Lyrikreihe“ des DDR-Verlags Volk und Welt. Es ist ein Ausschnitt aus einer Sinfonie auf den Tod des ukrainischen Nationaldichters Taras Schewtschenko. Die Klage mag heute auch außerliterarisch aktuell sein.
Iwan Dratsch
(ukrainisch Іван Федорович Драч; * 17. Oktober 1936 in Telischynzi, Oblast Kiew, Ukrainische SSR; † 19. Juni 2018 in Kyjiw)
Aus der Sinfonie "Schewtschenkos Tod"
Klagegesang der Mutter Ukraine
Und zu wem werd ich gehen,
in die Augen wem sehen,
wem kristallenes Blühen
in den Tälern erziehen?
Und wo soll ich dich finden?
Zwischen Gras und Ackerwinden?
Oder begraben im Sand,
wo Efeu das Kreuz umwand?
Und welch Tisch soll ich decken?
Und wem wird es schmecken?
Wem reiche den Becher ich dann
und stoß mit dem Kreuz mit ihm an?
Und wie soll ich dich ehren?
Soll ich Kirschfrüchte mehren
oder des Ahornblatts Glanz
heften an deinen Dornenkranz?!
Nachdichtung von Andreas Reimann, aus: Iwan Dratsch, Ukrainische Pferde über Paris. Gedichte. Berlin: Volk und Welt, 1976, S. 78.
Голосіння матері України
Та до кого ж я літатиму,
Кому в очі заглядатиму,
Кому квіти-самоцвіти
По долинах розстилатиму?
Відкіль тебе ж викликати?
Чи то з рути? Чи то з м'яти?
Чи з глибокої могили,
Де барвінки хрест обвили?
Які столи застилати,
Повні чари наливати?
Та й налити, пригубити,
З хрестом цокнутись і пити?..
Як же тебе шанувати -
Цвіт вишневий обсипати,
А чи жовтий лист кленовий
На віночок твій терновий?!
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