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Zwei runde Jubiläen heischen heute Aufmerksamkeit: der 150. Geburtstag von August Stramm und der 50. Todestag von Erich Kästner. Weil heute Montag ist, entscheide ich mich für ein Montagsgedicht von Kästner und lasse Stramm bis morgen warten. Im übrigen sind mir die beiden sehr verschiedenen Autoren gerade recht, um wieder mal auf die Diversität dieser Anthologie zu verweisen. Wer in meinem Regal und meinem Kopf nebeneinander zu liegen & stehen kommt, muss es aushalten, auch hier gelegent- und nachbarschaftlich zu verkehren. Hier geht es nicht um meine (und um niemandes sonst) Lieblingsgedichte. Nicht repräsentativ soll es sein, nur divers. Oder wie die Norddeutschen sagen: Watt all jiwwt!
Erich Kästner veröffentlichte zwischen dem 11. Juni 1928 und dem 22. April 1930 fast in jeder Ausgabe der Berliner Zeitung „Montag Morgen“ ein Gedicht. Hier das erste dieser Zeitungsgedichte, das dem legendären Droschkenkutscher Gustav Hartmann gewidmet ist, der auf der Fahrt von Berlin am 4. Juni in Hamburg angekommen war. Aus gegebenem Anlass grüßen wir auch heute die Stadt an der Seine, die immer noch für Diversität steht.
Erich Kästner
(* 23. Februar 1899 in Dresden; † 29. Juli 1974 in München)
Die Gustavs
Im wunderschönen Monat Mai
Befuhr ein Mann mit seinem Pferde
Ein großes Stück der kleinen Erde.
Ein Redakteur war auch dabei.
Selbstverständlich.
Man fuhr von Wannsee nach Paris.
Zwei Völker winkten mit den Mützen.
Auch schien es der Idee zu nützen,
Daß unser Kutscher Gustav hieß.
Selbstverständlich.
Obwohl er nicht Französisch kann,
Hat er sich mit Paris verständigt.
Denn dort, wo das Verstehen endigt,
Fängt die Verständigung erst an:
Selbstverständlich.
Wer nach Paris will, braucht Geduld,
Raketenflug hat keinen Zweck.
Wer langsam fährt, kommt schnell vom Fleck.
Daran sind nicht die Kutscher schuld,
Selbstverständlich.
Was sollen Völker mit Genies?
Wir Völker wollen Gustavs haben,
Die langsam, aber sicher traben!
Und das gilt nicht nur für Paris
Selbstverständlich.
11. Juni 1928
Kommentar des Herausgebers der „Montagsgedichte“, Alexander Fiebig:
Am Montag, dem 4. Juni 1928, traf der Droschkenkutscher Gustav Hartmann (bekannt auch durch Falladas Roman „Der eiserne Gustav“) in Paris ein. In der deutschen Botschaft hielt er eine originelle und begeisternde Rede über die Verständigung zwischen Paris und Berlin. Kästner vergleicht ihn mit dem Außenminister Gustav Stresemann, dessen Außenpolitik eine Verbesserung der Beziehungen zwischen Frankreich und Deutschland anstrebte.
Aus: Kästner, Erich, Montagsgedichte. Zusammengestellt und kommentiert von Alexander Fiebig. Berlin : Aufbau-Verl., 1989 (1. Aufl.), S. 5f – Das Taschenbuch in der bb-Reihe des Ostberliner Aufbau-Verlags gibt an: „Ausgabe für die Deutsche Demokratische Republik mit Genehmigung des Atrium-Verlages, Zürich“. Jedoch lässt sich bei der Deutschen Nationalbibliothek keine frühere Ausgabe des Titels ermitteln, die DNB listet vielmehr diese Aufbau-Ausgabe zuerst. Erst 2012 erschien eine Buchausgabe bei Atrium „Die MontagsGedichte / Erich Kästner. Mit einem Vorw. von Marcel Reich-Ranicki. Kommentiert von Jens Hacke“ und zugleich ein Hörbuch (CD) , die als Erstausgabe bezeichnet wird. Vielleicht weiß jemand aus der Leserschaft mehr darüber?

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