Mein Schatten

Christine Lavant

(* 4. Juli 1915 in Groß-Edling bei St. Stefan im Lavanttal, Kärnten; † 7. Juni 1973 in Wolfsberg)

Mein Schatten kann über Wasser gehen, 
wenn Mond oder Sonne nur richtig stehen,
mein Schatten glänzt dann am Scheitel.
Dieses Glänzen ist freilich bloß eitel
und kann nichts erwärmen, nie leibhaftig sein,
doch manchmal verdankt ihm ein einfacher Stein,
daß er silbern erstrahlt vor den andern.
Mein Schatten geht selbständig wandern,
auch oft in der Nacht aus dem untersten Traum,
mich hängt er dann so wie ein Pferd an den Baum
des Schlafes und läßt mir kein Futter.
Ich schreie um Vater und Mutter,
auch um die Geschwister und um den Tod,
doch bringen sie mir weder Zucker noch Brot,
ich höre nur alle von ferne.
Sie reden mir zu durch ein gläsernes Tor
und schließlich kommt doch nur mein Schatten hervor
in Begleitung ertrunkener Sterne.

Erstveröffentlichung in Merkur 10/ 1958, S. 923. Aus: Christine Lavant, Zu Lebzeiten veröffentlichte Gedichte. Herausgegeben und mit Nachworten von Doris Moser und Fabjan Hafner unter Mitarbeit von Brigitte Strasser (Werke in vier Bänden, Band 1). Göttingen: Wallstein, 2014, S. 288

Bild: KI

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