Das Archiv der Lyriknachrichten | Seit 2001 | News that stays news
Mátyás Dunajcsik
Aus: POLYGLOTTEN-PANIK ODER DIE SPRACHE DER VÖGEL
Fáj
A fülemüle fáj
A fülemüle füle fáj
Fáj
A fülemüle füle fáj
A fülemüle feje fáj
Foga fáj füle fáj
Wenn man eine Fremdsprache nicht versteht,
wird es zum Vogelgesang für die Ohren.
Und wenn man langsam beginnt, sie sich anzueignen,
dann ist die Melodie schnell verloren.
Nur die Fremdsprachenlernenden haben
Zugang zu diesen beiden Welten.
Nur sie wissen, dass die Vögel nicht singen,
sondern kreischen vor Schmerzen.
Meine Damen und Herren, was Sie aus den Lautsprechern hören, bedeutet Folgendes auf Ungarisch:
Weh
Die Nachtigall tut weh
Die Ohren der Nachtigall tun weh
Weh
Die Ohren der Nachtigall tun weh
Der Kopf der Nachtigall tut weh
Ihre Zähne tun weh, ihre Ohren tun weh
Weh ist ein Wort, das ich aus den Opern von Wagner gelent habe. Man sagt es, wenn man gleichzeitig singen und kreischen muss, wenn in einer weiblichen Stimme, die in den Weltgeist abfließende Männerhysterie ihren Höhepunkt erreicht. Wenn die Sprache fehlschlägt und kaputt geht. Aber wie schön das Kaputtgehen ist, wenn man endlich ein Vogel werden kann. Oder?
Lexical anxiety occurs when the subject lacks the vocabulary resources for satisfactory self-expression, causing a discrepancy between the individual’s abilities and the internal image of the self. On these occasions, the subject can experience in a first-hand, almost corporal manner the famous statement of Ludwig Wittgenstein, that die Grenzen meiner Sprache bedeuten die Grenzen meiner Welt. Language, and therefore the world, becomes a straitjacket one size too small, as the subject feels as if be or she has been unrightfully reduced to a lesser life-form, like that of a toad, a serpent, or a bird.
Wovon man nicht sprechen kann,
darüber muss man kreischen.
Guten Morgen, liebe Studenten und Studentinnen,
ich heiße Frau Rheingold und ich bin eure neue
Sprachlehrerin! Wir beginnen mit ein paar
sehr einfachen Diskussionsthemen,
damit wir uns ein bisschen besser kennenlernen können.
(…)
– Erkläre, warum deine Muttersprache
in deiner jetzigen Lebenssituation völlig nutzlos ist!
– Úúúúúúúúú, úúúúúúúú, úúúúúúúú, úúúúúú...
Die Muttersprache weint in der Ecke, während die neuen Gäste
die Betten machen. Az anyanyelv a sarokban sír, amíg az új
vendégek megágyaznak.
Mein Volk ist ein Gespenst, das in Europa umgeht.
Es ist nie wirklich da, wo es ist.
Dans ma bouche, il y a cing langues qui tournent.
Quelle surprise, que j'ai malà parler.
In meinem Mund drehen sich fünf Zunge.
Kein Wunder, dass es mir beim Sprechen wehtut.
Weh
Die Nachtigall tut weh
Die Ohren der Nachtigall tun weh
Der Kopf der Nachtigall tut weh
Der Hals der Nachtigall tut weh
Weh ist ein Wort, das ich aus den Opern von Wagner gelernt
habe. Das andere Ding, dem ich in Wagners Opern begegnet
bin, dass es der beste Weg ist, Vogelgesang zu verstehen,
Drachenblut zu kosten, so wie Siegfried, nachdem er Fafner
erschlagen hat.
Ei, bist du ein Thier,
das zum Sprechen taugt,
wohl liess' sich von dir, was lernen?
Hier kennt einer das Fürchten nicht:
kann er's von dir erfahren?
Aber ich bin kein altnordischer Held,
sondern ein Intellektueller aus Osteuropa:
das einzige, was mich die Jahrhunderte
erfahren lassen haben, ist gerade das
Fürchten. Wir haben so viele Synonymen
dafür, wie die Isländer für Schnee.
Félelem – snjór. Rettegés – sna. Iszonyat – mjöll. Ijedtség – fönn.
Aggodalom – drífa. Rémület – skafl. Ijedelem – glæra. Riadalom –
fjúk. Reszketés – bálka. Szorongás – hörsl. Borzalom – bjarn. Félsz –
svell. Majré – bylur. Para – hregg. Pánik – él.
Jede Sprache ist zwangsjackenschön und
schneeballblütenschwer.
Jede Sprache ist ein anderer Planet,
und man muss um den Sauerstoff kämpfen, um zu atmen.
I've seen things you people wouldn't believe.
Attack ships on fire off the shoulder of Orion.
I watched C-beams glitter in the dark
near the Tannhäuser Gate.
I have heard trolls sing poetry
on faraway glaciers.
(...)
Aus: Mátyás Dunajcsik: Verlorene Gedichte. Mit Zeichnungen von Krizbo. Köln, Leipzig, Olsztyn: parasitenpresse, 2023 (Die nummernlosen Bücher), S. 35-41
Mátyás Dunajcsik. Polyglott. Punk. Poet. Ex-ungarischer und neudeutscher Autor. Geboren 1983 in Budapest und lebt seit 2023 in Berlin. Wanderdichter in Emigration seit 2074. MA in Ästhetik (Kunsttheorie) und französischer Literatur. (Ebd.)
Neueste Kommentare