Niemand verlässt sein Zuhause, es sei denn

Warsan Shire (Somali Warsan Shireh, arabisch ورسان شرى), somalisch-britische Autorin, geboren am 1. August 1988 in Kenia von somalischen Eltern, mit denen sie im Alter von 1 Jahr nach Großbritannien kam.

Aus: Zuhause

I

Niemand verlässt sein Zuhause, es sei denn Zuhause ist das Maul eines Haifischs. Du rennst nur Richtung Grenze, wenn du die ganze Stadt rennen siehst. Der Junge, mit dem du zur Schule gingst, der dich hinter der alten Dosenfabrik schwindelig geküsst hat, hält ein Gewehr in der Hand, das größer ist als er selbst. Du verlässt dein Zuhause nur, wenn Zuhause dich nicht bleiben lässt.

Niemand würde sein Zuhause verlassen, es sei denn Zuhause jagt dich davon. Du hast nie daran gedacht, es zu tun, als du es dennoch tust, trägst du die Hymne in deinen Atemzügen, und wartest bis zur Flughafentoilette, um den Pass zu zerreißen und hinunter zu schlucken, und jeder traurige Bissen macht dir bewusst, dass du nicht zurückkehren wirst.

Niemand setzt seine Kinder in ein Boot, es sei denn das Wasser ist sicherer als das Land. Niemand würde freiwillig Tage und Nächte im Bauch eines Lastwagens verbringen, es sei denn die zurückgelegten Meilen bedeuten mehr als nur eine Reise.

(…)

II

Ich weiß nicht, wohin ich gehe. Wo ich herkomme, verschwindet. Ich bin nicht willkommen. Meine Schönheit ist hier keine Schönheit. Mein Körper brennt vor Scham, nicht dazuzugehören, mein Körper sehnt sich. Ich bin die Sünde der Erinnerung und die Abwesenheit von Erinnerung. Ich schaue die Nachrichten und mein Mund wird ein Waschbecken voll Blut. Die Warteschlangen, Formulare, Menschen hinter Schreibtischen, Telefonkarten, Einwanderungsbeamten, die Blicke auf den Straßen, die Kälte, die sich tief in meinen Knochen festsetzt, die Englischkurse am Abend, die Entfernung von zu Hause. Alhamdulillah*, all das ist besser als der Geruch einer lodernd brennenden Frau, einer Wagenladung voller Männer, die wie mein Vater aussehen – und mir die Zähne und Nägel ausreißen. All diese Männer zwischen meinen Beinen, ein Gewehr, ein Versprechen, eine Lüge, sein Name, seine Flagge, seine Sprache, sein Geschlecht in meinem Mund.

* ) Lob sei Gott

Aus dem Englischen von Mirjam Nuenning, aus: Warsan Shire: Haus Feuer Körper. Bless the Daughter Raised by a Voice in Her Head. Gedichte. Zweisprachige Ausgabe Englisch-Deutsch. Aus dem Englischen von Muna AnNisa Aikins, Mirjam Nuenning und Hans Jürgen Balmes. Mit einem Nachwort von Sharon Dodua Otoo. Frankfurt/Main: S. Fischer, 2022, S. 22ff

HOME

I

No one leaves home unless home is the mouth of a shark. You only run for the border when you see the whole city running as well. The boy you went to school with, who kissed you dizzy behind the old tin factory, is holding a gun bigger than his body. You only leave home when home wont let you stay.

No one would leave home unless home chased you. Its not something you ever thought about doing, so when you did, you carried the anthem under your breath, waiting until the airport toilet to tear up the passport and swallow, each moumful mouthful making it clear you would not be going back.

No one puts their children in a boat, unless the water is safer than the land. No one would choose days and nights in the stomach of a truck, unless the miles travelled meant something more than joumey.

(…)

II

I don’t know where I’m going. Where I came from is disappearing. I am unwelcome. My beauty is not beauty here. My body is burning with the shame of not belonging, my body is longing. I am the sin of memory and the absence of memory. I watch the news and my mouth becomes a sink full of blood. The lines, forms, people at the desks, calling cards, immigration officers, the looks on the Street, the cold settling deep into my bones, the English classes at night, the distance I am from home. Alhamdulillah, all of this is better than the scent of a woman completely on fire, a truckload of men who look like my father—pulling out my teeth and nails. All these men between my legs, a gun, a promise, a lie, his name, his flag, his language, his manhood in my mouth.

3 Comments on “Niemand verlässt sein Zuhause, es sei denn

  1. Schönheit ist nun mal relativ. Als ich tief in Japan erlebte, dass Kinder vor mir wegrannten und „Teufel! Teufel!“ schrien, war ich als Mann natürlich nicht gekränkt, da ich wusste, dass wir Holländer im 18. Jahrhundert eben als die roten Teufel bezeichnet und sogar in Holzschnitten verewigt wurden. Dies alles nämlich wegen der roten, verbrannten Nase! Diese Vorstellung lebt offenbar noch auf dem Land. Eine schöne Frau wie Scarlett Johansson, hätte da auch keine Schnitte.

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