Lieddeutsch

Rainer René Mueller 

(* 1. Januar 1949 in Würzburg) 

Lieddeutsch

Gesang auf der Kelle 
inmitten des Herbstpsalms 
des einhundertdritten und Walthers
    Kreuzlied

Würzburgtrümmer, beflogen
Schneewittchenvogel, der Eisschaber
    das Märchen Ewigkeit

Mutter wieviel Schritte
darf ich

    spielt das bleiche Kind herum 
gehn und spielen, das Knöchellied 
das Spiel aus Draht
    und Tagbleiche, dem Bildverschnitt 

wir legen uns Selbstmördernamen zu 
wir decken sie zu 
    und tanzen

alle kommen sie her und saufen das aus 
sie dreschen die Trommel, das Maul
    : sie lassen marschieren

Aus: Rainer René Mueller, POÈMES – POËTRA. Ausgewählte Gedichte 1981-2013. Ausgewählt von Rainer René Mueller, herausgegeben und mit einem Nachwort versehen von Dieter M. Gräf. roughbook 34. Harbouey, Heidelberg, Berlin, Ludwigshafen am Rhein, Beijing, Solothurn und Schupfart, November 2015, S. 12.

Nur wenige Dichter haben der deutschen Sprache so viel zugemutet wie Rainer René Mueller, es ist offensichtlich, dass er dies nicht aus reiner Experimentierlust tat, sondern der Not gehorchend. Wer nach Auschwitz Gedichte schreibt, sollte nicht nur zeigen, dass er das weiß und spürt, es muss doch auch die Wohlklangplatte vom Teller, jedenfalls muss etwas damit geschehen, sofern man der Meinung ist, Dichtung solle ein Instrument der Wahrheitsfindung sein und nicht eines des Vertuschens.

Dieter M. Gräf, ebd. S. 104

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