«Dieser text ist ein biest»

Wenn ein ironischer Verskünstler wie der Dichter Ulf Stolterfoht seitenweise die Lutherbibel zitiert, ist nicht unbedingt ein ehrfürchtiger Bericht über ein religiöses Erweckungserlebnis zu erwarten. Und doch gerät man ins Staunen, wenn der derzeit bekannteste deutsche Exponent der experimentellen Poesie sein neues Gedichtbuch mit Reminiszenzen an die Offenbarung des Johannes eröffnet, das bizarrste Buch des Neuen Testaments. Stolterfohts in neun Kapitel gegliedertes langes Poem «neu-jerusalem» behandelt ein grosses Thema – nämlich die Auswanderungsbewegung radikaler Pietisten im 18. und 19. Jahrhundert nach Amerika und in den Kaukasus, wo sie ihr neues Himmelreich errichten wollten. Wie es Stolterfohts Art ist, hat er sich den historischen Stoff in sprachanarchistischer Manier angeeignet und ihn in eine Geschichte religiöser, politischer und ästhetischer Dissidenz umgewandelt.

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Es gehört indes zu den grossen Reizen dieses Buches, dass es auch so manche Prämisse der experimentellen Lyrik ins Wanken bringt. Bisher galt als ausgemacht, dass sich der Lyriker Stolterfoht vorwiegend für die instabilen Verhältnisse zwischen den Wörtern und ihren Bedeutungen interessiert und beharrlich an einer «Entsemantisierung der Kunst» arbeitet. Solche Überlegungen passen aber nicht so recht zu «neu-jerusalem». Denn hier entfaltet der Autor seine Geschichte pietistischer Renitenz in weiten erzählerischen Bögen, ohne diese narrativen Elemente sprachkritisch zu relativieren. «Dieser text ist ein biest», heisst es am Ende des langen Gedichts. / Michael Braun, NZZ

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