27. Ukraine: Der Krieg hat das Land verändert

Der ukrainische Lyriker Serhij Zhadan darüber, wie der Krieg (die Überschrift der Zeitung sagt „Ukraine-Krise“, aber der Autor nennt es einen Krieg) das Land verändert hat.

Meine Heimatstadt Charkow ist weit im Hinterland. Andererseits – von hier bis zur russischen Grenze ist es auch nur eine Stunde Fahrt. Die Stadt ist mit den Nationalfarben Gelb und Blau verziert. Aber weiter weg vom Zentrum übermalen die Anhänger des Projekts Neurussland das Gelb und Blau mit Hakenkreuzen. Auf den ersten Blick macht diese Stadt den Eindruck, völlig proukrainisch zu sein: Aktivisten, freiwillige Helfer, Militärs. Von überallher kommen Menschen, die sich freiwillig zum Fronteinsatz gemeldet haben, und hierher ins Krankenhaus werden die Verwundeten gebracht.

Bei den letzten Parlamentswahlen haben hier wieder die früheren Mitstreiter Janukowitschs gesiegt. Der Krieg ermüdet, der Krieg zermürbt, aber offenbar hat niemand aus dem Krieg etwas gelernt. Hin und wieder ertönen in der Stadt Explosionen, die Terroristen sind bei der Arbeit. In den sozialen Netzwerken nennen sie sich selbst Charkower Partisanen, der Inlandsgeheimdienst SBU dagegen bezeichnet sie als russische Diversanten. Mehrmals sind Bomben an belebten Orten explodiert, es hat viele Verletzte gegeben.

Derweil demonstrieren proukrainische Aktivisten regelmäßig vor dem russischen Konsulat oder versuchen, das Rathaus zu stürmen. Bürgermeister ist hier weiterhin Gennadi Kernes, eine mehr als dubiose Figur. Weiterhin werden Lenin-Denkmäler gestürzt, aber die Spannung bleibt hoch. Der Krieg lässt nicht locker, der Krieg lenkt die Emotionen und raubt einem die Ruhe. In den Straßen sind immer mehr Soldaten in Uniform zu sehen, und die Gespräche drehen sich ständig um die Themen Flüchtlinge, Mobilmachung, Besatzung.

Immer mehr Verluste und immer mehr persönliche Geschichten: Hier ist ein Bekannter in Kriegsgefangenschaft geraten, dort hat jemand die Einberufung bekommen und ein weiterer Freund sammelt Geld für Hilfsgüter. Immer öfter hört man auch die Worte „vor dem Krieg“: Dieses war vor dem Krieg, jenes hat schon vor dem Krieg angefangen, vor dem Krieg war es soundso, vor dem Krieg habe ich ganz andere Sachen gemacht. Und es stimmt: Vor dem Krieg war das ein anderes Land. / Die Welt

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