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Jayne-Ann Igel, aus: Unversiegelte Botschaften. Anmerkungen zu Reiner Kunzes Dichtung:
Über Jahrzehnte habe ich wohl keine Gedichte von Reiner Kunze gelesen, oder sie doch nur gelegentlich in diversen Jahrbüchern, Anthologien wahrgenommen. Dabei waren sie mir in der zweiten Hälfte der siebziger Jahre so dringlich und gegenwärtig gewesen, diese zumeist kurzen, streng gearbeiteten Texte, die 1973 in einer aus den in Westdeutschland publizierten Bänden „Sensible Wege“ (1969) und „Zimmerlautstärke“ (1972) kompilierten Auswahl in der DDR erschienen waren, unter dem Titel „Brief mit blauem Siegel“ im Leipziger Reclam Verlag. Zu dieser Zeit erst sollte mir auch der Name ihres Autors bekannt werden, über ein zerlesenes Reclam-Bändchen, das im Freundeskreis von Hand zu Hand ging. Mit Gedichten, von denen sich viele aus meiner Generation angesprochen fühlten, ob ihrer sprach-, zeit- und gesellschaftskritischen Haltung; in ihnen fand sich kaum verschlüsselt auf den Punkt gebracht, was die Verhältnisse in der DDR ausmachte, oft formelhaft, eingängig, zuweilen auch didaktisch (wie wenig später in „Die wunderbaren Jahre“), die Verse dabei von einer Klarheit und Klarsichtigkeit, mit einem Impetus von Aufklärung, in einer Zeit, in der es noch nicht obsolet war, in Zusammenhang mit Lyrik von Botschaften zu sprechen. Reiner Kunzes ab Mitte der fünfziger bis in die siebziger Jahre hinein entstandenen Gedichte sind ohne den Kontext des obrigkeitlich verordneten Schweigens über die tatsächliche Verfaßtheit des Landes, in dem sie verortet, kaum denkbar, sie bildeten nicht zuletzt eine poetische Antwort darauf. Bestechend ist die epigrammatische Kürze vieler Texte, ihre Pointiertheit, die sie mit wenigen Metaphern auskommen läßt – und was die Peripetie, der Umschlag in eine neue Weise des Sehens, der Wahrnehmung, die zumeist in den letzten drei vier Zeilen dieser Gedichte statthat, an veränderten Sichtweisen, Perspektiven generiert, eignet mitunter Sentenzcharakter. Beispielhaft dafür wie auch für die Arbeitsweise des Autors, der sinnliche Eindrücke zu einprägsamen Metaphern zu verdichten weiß, mag hier ein Auszug aus den 21 Variationen über das Thema „Die Post“ stehen:
1
Wenn die post
Hinters fenster fährt blühn
Die eisblumen gelb2
Brief du
Zweimillimeteröffnung
der tür zur welt du
geöffnete öffnung du
lichtschein,
durchleuchtet, dubist angekommen
3
Tochter, briefträgerin vom
briefkasten bis zum
tisch, deine stimme ist
das posthorn
[…]
Scholl: Daraufhin lud Sie der damalige Kulturminister der DDR zum vertraulichen Gespräch, Herr Hoffmann hieß der, versprach Ihnen Geld und Privilegien noch und nöcher, wenn Sie diese Wahl da in Bayern nur ablehnen würden.
Und als Sie zu allem Nein sagten, sagte der Minister – und man kann es eigentlich heute gar nicht glauben, dass so ein Satz wirklich fällt -, Herr Kunze, dann kann Sie auch der Minister für Kultur nicht mehr vor einem Unfall auf der Autobahn bewahren. Das heißt, man hat Sie wirklich mit dem Tode bedroht, Sie mussten um Ihr Leben fürchten!
Kunze: Ich weiß nicht, ob ich mich tatsächlich habe fürchten müssen, aber damals war es für mich todernst. Und ich habe danach auch vor jedem Fahrtantritt die Kühlerhaube aufgemacht, nachgeschaut, ob der Splint in der Lenkung steckt, und habe die Radkappen mit Vaseline eingerieben, um zu sehen, ob sie abgenommen worden sind …
Scholl: Ob eventuell die Muttern gelöst wurden …
Kunze: … die Muttern gelöst wurden. Daran sehen Sie, dass ich das sehr wohl ernst genommen habe. Und es war Grund, es ernst zu nehmen. Bei Jürgen Fuchs ist ja ein Unfall initiiert worden. / DLR
Kurz nach der Übersiedlung hatte er erklärt, dass die Menschheit von Ländern wie dem, aus dem er gerade gekommen war, für die Zukunft nichts Positives zu erwarten habe. Daraus wurde bald der Vorwurf, er neige zu „eher rechts- denn linksliberalen Kreisen“. Entsprechende Mutmaßungen hat er mehrmals entschieden zurückgewiesen: „Rechtsliberal ist man nicht nur nicht, mit Rechtsliberalen sympathisiert man auch nicht“, sagte er 2004 als Festredner zum Tag der deutschen Einheit in Erfurt. / Thomas Bickelhaupt, Südthüringen
„Dichter dulden keine Diktatoren neben sich“, überschrieben seine Kollegen Günter Kunert und Matthias Buth ein Lesebuch, das sie zum 80. Geburtstag im Verlag Ralf Liebe herausgegeben haben. / Berliner Zeitung
„Dichter dulden keine Autoren neben sich“ haben Buth und Kunert ihr Buch genannt. / Deutsche Welle
Mehr: literaturkritik.de /Badische Zeitung / Tagesspiegel / Die Welt / Neues Deutschland /
● Udo Scheer: Reiner Kunze. Dichter sein: Eine deutsch-deutsche Freiheit. Mitteldeutscher Verlag. 271 S., geb., 19,95 Euro
● Matthias Buth, Günter Kunert (Hrsg.): Dichter dulden keine Diktatoren neben sich. Ein Lesebuch. Verlag R. Liebe Weilerswist. 313 S., geb., 20 Euro
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