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In einer materialreichen Studie widmet sich der Romanist Martin Baxmeyer der literarischen, insbesondere lyrischen Produktion der Anarchistinnen und Anarchisten während des Bürgerkriegs. Er entdeckt dabei »literarischen Nationalismus« und stellt die Frage: Wie konnte es kommen, dass »die literarische Selbstdarstellung einer Bewegung, zu deren Charakteristika jahrzehntelang ein unversöhnlicher Antinationalismus gehört hatte«, sich derart wandelte? Die Metapher »Mutter Spanien« ist schließlich keineswegs die einzige nationalistische Sprachfigur, die in der Lyrik der Libertären auftaucht. (…)
Rund 20 000 Gedichte sind während des Bürgerkriegs veröffentlicht worden. Selbst die Anthologie »Spanische Lyrik des 20. Jahrhunderts« im Reclam-Verlag (2003), sonst eher nicht das Format für Begeisterungsstürme, nennt das »ein Phänomen ohne seinesgleichen in der modernen europäischen Kultur«. Rund 500 dieser Gedichte, ausschließlich von Anarchistinnen und Anarchisten verfasst, hat Baxmeyer analysiert, dazu noch 125 Prosaarbeiten. Diese zumeist von literarischen Laien verfasste Literatur findet sich in kaum einer Gedichtsammlung. Zum größten Teil hat Baxmeyer die Gedichte in Archiven entdeckt. (…)
Bei unreflektierten Rückgriffen auf nationale Symbolik blieb es nämlich nicht. Dass auf Seiten Francos auch marokkanische Truppen eingesetzt wurden, veranlasste die anarchistischen Dichter, und, wie Baxmeyer nachweist, auch renommierte anarchistische Politikerinnen wie Federica Montseny, zu regelrechter rassistischer Hetze. In den verbalen Attacken gegen die »Mauren« sieht Baxmeyer daher auch den »wohl radikalsten Bruch« mit den egalitären und transnationalistischen Ideen des Anarchismus. Statt ihren eigenen Idealen treu zu bleiben, propagierte die Bewegung also eine nationale Identität. Denn das tut Literatur: Sie kann bestehende Identitätsentwürfe »spiegeln, gestalten und verbreiten«, so Baxmeyer.
Zum einen, schreibt er, ging es um die »Delegitimierung des Kriegsgegners«, also auch darum, wer mit Fug und Recht beanspruchen konnte, für Spanien zu kämpfen. Damit einher ging ein »Konformitätsdruck« in der republikanischen Zone. Auch die anderen Linken argumentierten so. Und schließlich waren auch die Schulbücher schuld, ein gründlich ansozialisiertes, positives Spanienbild zeitigte seine Effekte. Aber nicht alle Gründe lagen außerhalb des Anarchismus selbst. Zum anderen nämlich legt die soziologisch wie politisch bestens informierte Literaturanalyse eine »philonationalistische Tradition« innerhalb der anarchistischen Bewegung offen. Gemäß dieser war das spanische Volk immer schon mit einer »welthistorischen Aufgabe« betraut. War es einmal die koloniale Eroberung der Welt, sollte es nun die Revolution sein. Schließlich führt Baxmeyer noch eine kunsttheoretische Begründung an: Für die nationalistische Wende war nicht zuletzt auch das funktionalistische Verständnis von Kunst und Literatur verantwortlich, das die Anarchisten vertraten und in der das Schreiben ganz der politischen Wirksamkeit untergeordnet war. Das Gedicht war eine Waffe, die »Mutter Spanien« die erstbeste Munition. / Jens Kastner, Jungle World
Martin Baxmeyer: Das ewige Spanien der Anarchie. Die anarchistische Literatur des Bürgerkriegs (1936–1939) und ihr Spanienbild. Edition Tranvia/Verlag Walter Frey, Berlin 2012, 599 Seiten, 36 Euro
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