100. Schreiben

Es gibt Stimmen, die sagen, Sprache wäre entstanden aus sich berührenden Gebärden. Wenn zwei Personen voreinanderstehen und die Phase der langsamen Annäherung geschafft ist, mag es dazu kommen, dass eine flache Hand auf die Brust des anderen gelegt wird. Oder, ein starkes Ding, die vier Hände schliessen sich so ineinander, dass alle Finger und Daumen mit ‚eingeschlossen‘ sind. Taktile Reize. Berührungs-Meldungen! Der Daumen in seiner Druckbewegung sagt etwas anderes als der Zeigefinger. – Diese intensive Gebärde im Ganzen (vier Hände, 16 Finger, 4 Daumen) kommt mir vor wie der erste Hauptsatz, den Menschen gesprochen haben.

Ein sich Vorfinden im Raum für jede Person und beide im Zusammenschluss wird erlebt. Vielleicht ist die eine Seite aktiver als die andere. Oder die Finger bleiben still und nur die Daumen erlauben sich, den Handballen der Gegenperson in Druck und im Reiben zu erkunden.

*

Dass die Sprache „auf etwas hin“ gerichtet ist, wird besonders beim Spiel Frage und Antwort klar. Diese Gesprächsfigur ist brüderlich, geschwisterlich. Denn in meine Frage baue ich ein Stück meines Gegenüber und der (erwarteteten, erwünschten) Antwort sein.

Ein Tipp fürs Denken und Schreiben wäre also, dabei mit sich selbst in einen Dialog zu treten und so zu tun, als wüsste ich das, was ich meinem eigenen Gegenüber erzähle, noch gar nicht.

Solche Konstellationen sind schöpferisch-produzierend.

/ Wilhelm Fink (Hamburg)

One Comment on “100. Schreiben

  1. Seltsam, dass uns das Reden so selten reicht und was Borges damit eigentlich nicht zu tun hat…
    10.03.09, 19:03:21 by klavki

    Gesten sind hilflose, gescheiterte, degenierte Versuche von Greifungen!

    Die Geste als auditiv-phonetischer Atavismus, ein rein visuelles Signum, ein diminutives Reden (sozusagen ein lapsus linguae), ein sprachtiefsinniges Homonym: vielleicht aber auch nur ein vorposterischer Wächter, ein Kryptolabyrinth, Plänkler und Ulan …

    Und die Qualität?

    Als Offenbaren ein Auspressen (augenscheinlich, ersichtlich, evident und greifbar) ein gelöstes Rätsel. Die Geste ist die Plastizität von Worten, ein Worteideshelfer, eine Gelöbnisbürgschaft, eine Allesgorisierung unserer disjunktiven Elementen …

    Als Geheimhaltung ein Bemänteln, ein Narren, ein Glimmern und Lauern (chiffriert, kabbalistisch und wolkig), leerer Rauch, ein Possenschwulst, ein mundfaules Diplomatengebären, ein elliptischer Lapdarstil, Stenographieposse, barocke Dekoration, pompöse Verzierung, ein tautologisches Brimborium, pleonastische Fußnotenillustration, ein Hypersuperüberismus, reine Pathosverschwendung, eine Prestigestrategie, eine Urtextforcierung, ein Originaläquivalent der Sprache, eine dragomanerische Interlinearversion …

    Dein Klavki

    P.S. Eine höhere Qualität des Sehens?
    Borges war blind.
    Im Dornseiff steht zwischen „blind“ und „sehen“ als Oberbegriffe „schwachsichtig“.
    In dieser Kategorie verweilt das Wort: „spiegelnd“.
    Borges Spiegel ist also zu verstehen als eine höhere Qualität des nichtvorhandenen Sehens Borges‘ …

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