5. Übersetzungskritik

Von Àxel Sanjosé

LAS EUMÉNIDAS BONAERENSES

Con el viento que arrastra las basuras
van a dar al suburbio y se deslizan
amarillas por caños de desagüe
y se amontonan en las negras bocas.

Alzan señales en los paredones
y cuelgan, en las largas avenidas,
de los árboles bajos, como arañas,
y en el verdín del puente se esperezan.

¡Guarda! En baldíos, sobre pies fluviales,
si los cruzas al alba te persiguen
y mueven el botón que se te cae.

¡No alces la chapa! Están agazapadas
con el rostro cruzado de ojos grises
y hay una que se escurre por tu sexo.

Die Eumeniden von Buenos Aires

Mit dem Wind, der den Unrat mitnimmt
gelangen sie zum Stadtrat*), gleiten
gelb durch Regenrinnen hinab
und horten sich in schwarzen Hauseingängen.

Sie hinterlassen Markierungen an den Mauern,
hängen auf den langen Avenidas
wie Spinnen von niedrigen Bäumen,
und lümmeln sich auf dem Grünspan der Brücken.

Vorsicht! Als Landstreicher verfolgen sie dich auf regennassen Füßen
wenn du im Morgengrauen an ihnen vorbeigehst
und schütteln die Knospen, die auf dich herunterfallen.

Erhebe keinen Schild, setz dich nicht zur Wehr! Sie ducken sich,
das Gesicht von grauen Augen durchbrochen;
und eine gibt es, die in deinem Körper ein ungezügeltes Leben führt.

(Deutsche Fassung aus: Alfonsina Storni: Blaue Fledermaus der Trauer. Gedichte. Zweisprachig Spanisch/Deutsch. Übersetzung von Reinhard Streit. teamart Verlag, Zürich 2009)

Die beiden Quartette sind soweit in Ordnung, bis auf den unerklärlichen Aussetzer »Stadtrat« für »suburbio«, was schlicht und einfach »Vorstadt« bedeutet (und bereits bei minimalen Lateinkenntnissen ersichtlich ist)*). »boca« als »Hauseingang« ist unnötig gewagt, liegt doch nahe, die eigentliche Bedeutung, nämlich »Öffnung (z.B. eines Rohres)« zu wählen.

Aber dann: Vorsicht!

»baldío« kann zwar u.U. im übertragenen Sinn so etwas wie »Taugenichts, Vagabund« heißen, aber »als Landstreicher« müsste dann »como [oder: de] baldíos« oder  lauten. Warum nicht die ganz normale Hauptbedeutung, nämlich »Brachfeld«? Und »pies fluviales« sind wörtlich »Flussfüße«, also die seichte Zone im Delta (von Regen keine Rede). »cruzar« heißt »(über)kreuzen, überqueren« und bezieht sich auf eben diese Orte. Das ganze ist eine Warnung, die paraphrasiert etwa lautet: ›Pass auf! In Brachfeldern, auf Flussbänken – wenn du sie überquerst, dann verfolgen sie dich‹. Es folgt die bereits beanstandete dritte Zeile: »y mueven el botón que se te cae«, wörtlich ›und bewegen den Knopf, der dir herabfällt‹ (= den du verlierst)‹. Natürlich kann »botón« auch »Knospe« heißen und alles Mögliche andere, aber das ergibt in diesem Kontext überhaupt keinen Sinn. Außerdem ist von einem einzigen »botón« die Rede. »schütteln« wäre »agitar«, und wenn etwas »auf dich herunterfallen« würde, sagte man »te cae encima« oder »cae sobre ti« oder so ähnlich; »se te cae« ist unmissverständlich das Entgleiten aus den Händen oder eben das Herunter- oder Abfallen.

Hat man sich einmal verrannt, gibt es kein Halten. »Erhebe keinen Schild, setz dich nicht zur Wehr!« ist pure Phantasie. Dort steht lediglich »No alces la chapa!«, also wörtlich »Hebe das Blechteil nicht hoch«. Gemeint ist wohl der Knopf, der eben heruntergefallen ist. Von »Schild« weit und breit keine Spur, »chapa« wäre bestenfalls das Material für ein Straßenschild [also das Schild, n.], auch eine Polizeiplakette wäre eine »chapa«, aber hier gibt es keine Amtsperson. Und das willkürlich hinzugefügte »Setz dich nicht zur Wehr« zeigt, dass der »Übersetzer« sein eigenes Konstrukt irgendwie mit einer Deutung versehen musste. Einer völlig aus der Luft gegriffenen und, wie es in solchen Fällen zu sein pflegt, dem Original widersprechenden Deutung. Das ganze steht ja immernoch im Warnmodus, das angesprochene Du soll sich ja hüten, sich also potentiell schützen …

Der Rest ist auch zum Teil schon gesagt. Vor der letzten Zeile noch zwei Unsauberkeiten: »Sie ducken sich« (was wohl als Reaktion auf den imaginären Schild zu verstehen wäre?) eben nicht, sondern befinden sich bereits in geduckter Haltung, also lauernd. Und das Gesicht ist von grauen Augen durchkreuzt, nicht durchbrochen. Die letzte Zeile habe ich schon kommentiert: es geht darum, dass eine »se escurre por tu sexo«, also über das Geschlechtsorgan eindringt. Ob sie dann »in deinem Körper ein ungezügeltes Leben führt«, ts, ts, ts, ist nicht erwähnt.

Kann Herr Streit nicht genug Spanisch? Und hat denn teamart keinen Lektor? Das Schlimmste ist dass dieses großartige, verstörende Gedicht völlig entstellt wird, und zwar nicht nur in der Diktion, sondern hier auch im Kern, der Vision von den Rachegöttinnen, die sich als Mikroben über die Kanalisation ausbreiten und den Menschen auflauern.

*) über den Tippfehler siehe Kommentare

4 Comments on “5. Übersetzungskritik

  1. Pingback: 108. Übersetzungskritik « Lyrikzeitung & Poetry News

    • den stadtrat muß ich auf meine kappe nehmen. superdoofer tippfehler.

      daß die gedichte von alfonsina storni eine bessere übersetzung verdient hätten, bleibt meine meinung.

      den tippfehler bessere ich aus. es nutzt niemandem, wenn er im text bleibt.

      Like

  2. Mein Kommentar zum angeblichen „Stadtrat“: In dem besagten Gedicht von Alfonsina Storni, besser gesagt in dessen deutschen Übersetzung gibt es weit und breit keinen Stadtrat – im mir vorliegenden Buch steht eindeutig und klipp und klar „Standrand“ (S. 135, 2. Zeile), demnach recht genau, was der kritikasternde Kritiker noch so eben hätte tolerieren wollen…

    Gibt es bei lyrikline kein Lektorat?

    Oder verlasst Ihr Euch ganz einfach darauf, dass Eure Leser es ja sowieso nicht bemerken?

    Like

    • Stadtrat für Stadtrand ist ein toller Tippfehler. Shit happens, sagen die Amerikaner.
      Die Quelle des Fehlers scheint die Rezension bei fixpoetry zu sein. Dort fand ich das Gedicht auf Deutsch und stellte es zur Diskussion in die Lyrikzeitung. Wo es Àxel Sanjosé fand, der den spanischen Originaltext dazusuchte und einen Kommentar schrieb.
      Hier steht es noch heute:
      http://www.fixpoetry.com/feuilleton/rezensionen/492.html?in=3

      Dieser „unerklärliche Aussetzer“, wie Sanjosé zu Recht bemerkt, wär damit wohl geklärt.

      Ob es bei lyrikline ein Lektorat gibt, weiß ich nicht. Wer mit dem Satz „Oder verlasst Ihr Euch ganz einfach darauf, dass Eure Leser es ja sowieso nicht bemerken?“ gemeint ist, auch nicht. Sollte eine Verwechslung vorliegen? Es gibt so viele der Lyrik gewidmete Seiten im WWW, zB lyrikline (Literaturwerkstatt Berlin), fixpoetry, Poetenladen (Leipzig) oder die Greifswalder Lyrikzeitung. Kann man schon mal verwechseln. Shit happens.
      Ihre Formulierung vom „kritikasternden Kritiker“ halte ich für einen Aussetzer. Über Stadtrand – Stadtrat kann man lachen, über die übrigen Anmerkungen zur Übersetzung von Àxel Sanjosé
      https://lyrikzeitung.wordpress.com/2010/08/02/5-ubersetzungskritik/

      Uwe Stolzmann
      http://www.neues-deutschland.de/artikel/176310.wie-hunde-ohne-herrn.html

      und Frank Milautzcki
      http://www.fixpoetry.com/feuilleton/rezensionen/492.html?in=3
      könnte man diskutieren.

      Im übrigen macht man eine so aufwendige Sache wie das Betreiben einer Lyrikseite nur, weil es Leser gibt, die vieles bemerken.

      Like

Hinterlasse einen Kommentar

Diese Seite verwendet Akismet, um Spam zu reduzieren. Erfahre, wie deine Kommentardaten verarbeitet werden..