120. Friederike Mayröckers Projekt

ENTGRENZTER TRAUM

Michael Hammerschmid : “ich schreibe jetzt figural” – Zur Ästhetik von Friederike Mayröckers “Und ich schüttelte einen Liebling”

Ausschnitt (komplett bei in|ad|ae|qu|at)

Friederike Mayröcker schreibt an einem literarischen Projekt, von dem sie verschiedentlich angedeutet hat, es bräuchte eine Lebensdauer von mindestens 150 Jahren, um die Wunschkräfte, die darin arbeiten, an einen befriedigenden Punkt zu führen. Diese 150 Jahre sind zweifelsohne als Chiffre für die Überschreitung gewöhnlichen Menschenalters zu verstehen, wie man es etwa aus der Bibel oder von Mythen her kennt. Mit diesem Wort ist aber auch der Umgang mit den Rahmungen sogenannter Wirklichkeit angesprochen, durch die sich Friederike Mayröckers Schreiben bewegt: über Grenzen hinaus, in den entgrenzten Raum und Traum der Sprache. Angesichts des Jandlschen Schreibens und seiner Grundhaltung, die im vorliegenden Kontext das Bezugsfeld bildet, stellt sich daher die Frage, wie sich die Ästhetik der Überschreitung bei Friederike Mayröcker genauer beschreiben lässt. Wie gestaltet sich das Verhältnis der scheinbaren Höhen ihrer Prosa zu den scheinbaren Tiefen der Jandlschen Dichtung ? Wo ergeben sich signifikante Vergleichspunkte und Differenzen in der Grundtendenz ihrer literarischen Arbeit ?[2] Anhand von Friederike Mayröckers letztem Buch UND ICH SCHÜTTELTE EINEN LIEBLING , gewissermaßen dem opus magnum seit Ernst Jandls Tod, lassen sich erste Antworten und Perspektiven auf diese Fragen formulieren.

Zunächst fällt auf, dass UND ICH SCHÜTTELTE EINEN LIEBLING in einem sehr einfachen und luziden Ton geschrieben ist, der so manche Räudigkeit und Skizzenhaftigkeit früherer Arbeiten zurücknimmt. Vor allem im Vergleich mit dem Vorgängerbüchlein “Die kommunizierenden Gefäße“ wird dies deutlich, das einem mit Kurzabsätzen und schillernden, geballten Capriccios begegnet, währendUND ICH SCHÜTTELTE EINEN LIEBLING längere Episoden und eine flächigere, weitgestrecktere Erzählweise entfaltet. Aber auch in diesem letzten Buch sind die Brüche und Schichtungen Grundbestandteil der Mayröckerschen Prosa. Diese doppelte Haltung der Vereinfachung und des entgrenzenden, brechenden Selbstbezugs laufen auf die Frage nach einer eigenen Ästhetik des Herunterkommens bei Friederike Mayröcker hinaus:

Zuallererst könnte man dieses Buch so behandeln, wie die Autorin die Bücher und Kunstwerke, die Menschen und Phänomene ihrerseits behandelt, um sich so unmittelbar wie möglich auf den Gestus des Buches einzulassen:

und ich lese jetzt Gertrude Stein und Jacques Derrida und ausschlieszlich und ich lese sie immer wieder und ich gerate an Stellen die ich schon gut kenne und manchmal habe ich sie auswendig gelernt, und ich kann nur visuell denken, und ich bin Zärtlichkeit gar nicht mehr gewohnt, … (186)

QUELLE

Michael Hammerschmid und Helmut Neundlinger : “VON EINEN SPRACHEN”. POETOLGISCHE UNTRSUCHUNGEN ZUM WERK ERNST JANDLS – Innsbruck – Studienverlag 2009 , 173 – 184

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