013. Gedicht

HILDE IST BESTIMMT GAR NICHT NACH BONN GEFAHREN,
Nach Koblenz, Andernach, nach Kiel,
Sie muß hiergeblieben sein, ich spüre mit dem Finger
Ihre Piercingreste in der Luft, wir heirateten zwei
Mal im Schlaf, von allen Seiten, zum Glück
Vergaß sie, ihre Jacke mitzunehmen, ich habe mir
Vorgenommen, kleiner zu werden, mit
Kleineren Kartoffeln, kleinerem Obst, Steakmedaillons und
Winzigen Getränken, ich habe meine Arme
Mit Wäscheleinen enger geschnürt, ich schlafe
Nur noch mit hochgezogenen Knien, ich lese nur
Noch die Buchzeilen genau in der Mitte, ich stelle mich
Tagsüber gekrümmt vor meinen geöffneten Kühlschrank,
Probiere, mit den Händen phasenweise
Drin zu wohnen, lege
Weinverpackungen und Melonentrümmer
Auf die Arme, Arme
Mit nichts dahinter, ich
Hebe ständig Schnecken vom Boden auf, Grashalme,
Filterpapier und die Kinder von Ameisen, ich gehe in
Die Hocke und bleibe so, ich binde mich an einem Baum
Fest und versuche jetzt, von ganz allein zu bluten, ich
Schlenkere mit den Armen, warte auf Wölfe und
Haie, die auch mal für umsonst schwimmen, bin ich
Schon kleiner geworden, Hilde, ich winke ja gar nicht, ich
Warte, ich esse, ich teile mir mit den Wespen
Den kleinsten, jemals von einem Ast gefallenen,
Aufgesprungenen Apfel, ich bin schon
Kleiner geworden, du mußt
Hiergeblieben sein.

Thomas Kunst

2 Comments on “013. Gedicht

  1. ha! auch ich wollte meiner begeisterung spontanen lauf lassen. WAS FÜR EIN BEAT! DAS GEHT REIN WIE FLÜSSIGE BUTTER!!! und ja, auch meine güte: vielleicht ein klassiker, wer weiß! jedenfalls wurde mir erst beim wort „grashalme“ bewußt, daß es womöglich wie bei HEL ToussainT ist: pickepacke voll mit anspielungen, die man gar nicht ahnt, weil chon die primärgeschichte „sinn“ macht. mist, ich muß viel mehr lesen, um gebildet genug für „alle“ ebenen zu sein (das ist jetzt absolut nicht zynisch gemeint, sondern eine tiefe traurigkeit, daß der tag einfach zu kurz für 30 bücher gleichzeitig neben dem bett ist) – ABER DER BEAT: SO EIN GEDICHT LIEST SICH EINFACH GERNE, das ist geil beim ersten kaffee!! KUNST MIT KAFFEE OHNE KLATSCH ABER WIE EINE ZEN-PEITSCHE 🙂 Thomas, im ernst: könntest du selbst eine komplexe interpretation (vorallem jener wörter, wo man gar keine metapher ahnt!) hinterherschieben? auch DIE wäre wahrscheinlich purer beat ;-)))

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  2. höchste kunst! meine güte.
    wie sehr ich dieses gedicht jetzt schon liebe. ein klassiker. wenn ich jemals versucht habe, etwas mit einem gedicht zu erreichen, dann so etwas. so etwas plausibles so schön zu beschreiben. sehnsucht und verlangen. fantastisch und fantasievoll.

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