35. Gedichte schützen

Die verblüffende Modernität dieser Gedichte, ihre Verspieltheit, ihre Ironie, die überall ausgestellte Freude an der Erzeugung von Rätseln und vielbezüglichem Sinn – all das bleibt ausser Betracht. Es hätte die biografische Perspektive bereichern können. Denn die artistische Bildersprache, die Goethe der Poesie des Orients entnahm und mit Marianne förmlich einübte, war für ihn wohl das Medium, in dem er diese zugleich beglückende und bedrohliche Erfahrung zulassen konnte. Das Rollenspiel als Hatem und Suleika, die einander Hafis-Verse mitteilen, war insofern nicht blosse Maskerade zur Abschirmung gegen die Neugier der anderen. Es war der Vollzug von Liebe in Literatur, in Texten, die nicht festzulegen sind, sondern beständig changieren zwischen Sprache der Liebe und Sprachverliebtheit. Indem er je nach Bedarf die Kunst in Leben und das Leben in Kunst verwandelte, entzog sich Goethe in einen letzten Schutzraum. Die abzuwehrende Gefahr benennt der «Divan» unmissverständlich; es ist zerstörendes Liebesfeuer: «Findet sie ein Häufchen Asche, / Sagt sie: der verbrannte mir.» / Manfred Koch, NZZ 14.4.04

Dagmar von Gersdorff: Goethe und Marianne von Willemer. Geschichte einer Liebe. Insel-Verlag, Frankfurt am Main 2003. 302 S., Fr. 36.-.

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