Revolutionsfeier

Anlässlich des Revolutionsfeiertags am 7. November 1938 erhielten die Gefangenen des Wladiwostoker Besserungs- und Arbeitslagers die Erlaubnis, auf einem Fetzen Packpapier einen Gruß nach Hause zu schreiben. „Bin außerordentlich erschöpft. Abgemagert, fast nicht wiederzuerkennen. Aber Kleider zu schicken, Essen und Geld – weiß nicht, ob es Sinn hat. Versucht es trotzdem. Ich friere sehr ohne Kleider“, schrieb Ossip Mandelstam an seinen Bruder nach Moskau. Zwei Wochen später starb der Schriftsteller, der einer Legende zufolge seinen Mithäftlingen am Lagerfeuer Petrarca-Sonette rezitiert haben soll, ausgezehrt und in geistiger Verwirrung. Er wurde in einem Massengrab verscharrt.

„Die arme Poesie weicht vor der Vielzahl der auf sie gerichteten Revolvermündungen strikter Forderungen. Wie muss Poesie sein? Vielleicht muss sie überhaupt nicht, vielleicht ist sie niemandem etwas schuldig.“ Seine radikale Absage an jede Vereinnahmung der Literatur hat Ossip Mandelstam mit dem Leben bezahlt.

Ralph Dutli: „Mandelstam. Meine Zeit, mein Tier. Eine Biographie“. Ammann Verlag, Zürich 2003. 640 Seiten, 28,90 €

/ Marion Luhe, taz vom 2.1.2004, Seite 12
(vgl. im Archiv, Lyrikzeitung 7, 10, 12/ 2003)

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