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Veröffentlicht am 31. Dezember 2003 von rekalisch
Nicht das Grelle und Schreierische treibt Elena Guro um, sondern das verhalten Blühende und Glühende, sanft Erkannte. Gegenstände werden beseelt, mit Regungen und Organen ausgestattet. «Die Berührungen der Luftfinger. Die Stuhllehnen lächeln.» Der Tag buckelt und bekommt Schultern. Vermenschlichung heisst das wohl, gemeint ist die Durchdringung mit energischem Gefühl. Das Adjektiv «zart/zärtlich» kehrt in vielen Sätzen wieder, in denen ein bezaubernder leichter Irrsinn webt. «Rückkehr, Tee in zärtlichen Dämmerungen. Ihre Zukunft, ihre Träume – zärtlich, zärtlich rieseln sie durch die Dinge auf den Erlös.»
Selbst die Zukunft, der künftige grosse Fetisch der Futuristen, bekommt hier ein ungewohntes weibliches Attribut. Guro skizziert und inszeniert eine leuchtende zarte Zukunft. Sie war 1912 Mitunterzeichnerin futuristischer Manifeste. Auch sie wollte eine «Befreiung des Wortes» aus der Versklavung durch den Gebrauch. Und gleichzeitig propagierte sie eine Poesie des Unbeschuhten, Schlichten, eine Barfüsser-Poesie: «Alle Dichter, Schöpfer künftiger Zeichen, haben barfuss zu gehen, solange die Erde sommerlich ist. Unsere Füsse sind noch unschuldig und unberührt, und werden am ehesten entzückt sein.» … Vielleicht hätte der Männerverein der Futuristen besser hinhören sollen. / Ralph Dutli, NZZ 31.12.03
Elena Guro: Lieder der Stadt. Prosa und Zeichnungen. Aus dem Russischen und mit einem Vorwort von Peter Urban. Friedenauer Presse, Berlin 2003. 32 S., Fr. 17.10.
Kategorie: Rußland, RussischSchlagworte: Elena Guro, Futurismus, Ralph Dutli
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