Exerzitien der Wahrnehmung

Die romantisierende Verschmelzungssehnsucht des lyrischen Subjekts hat hier keine Chance mehr. Es geht in diesem wie auch in den folgenden fünf Zyklen um die Auslotung von Wahrnehmungsverhältnissen, um die Erkundung der Möglichkeiten von poetischer Erkenntnis. Bereits sein vielgelobter Erstling Lichter in Menlo Park (2000) enthielt solch strenge Exerzitien der Wahrnehmung, lyrische Streifzüge durch die klassischen Experimentierstätten der modernen Technikgeschichte. Es ging um Kontinente, Windgeschwindigkeiten, Wolkenbildung, Teilchenbeschleunigung, physikalische Zustände des Wassers und vor allem um Veränderungen des Lichts.

So überrascht es nicht, wenn auch das lyrische Subjekt in den „Faltenwürfen“ beim Erfassen der Naturszene auf physikalische Unschärferelationen zurückgeworfen wird. Schon bevor das erste Gedicht eine Verfinsterung des sonnenhellen Vormittags registriert, stolpert man über eine Negation. Nach zwei Zeilen vertrauter Herbst-Metaphorik stößt man auf die schroff den Gedichtrhythmus konterkarierende Fügung vom „unewigen Schnee“. / Michael Braun, FR 12.11.03

Raphael Urweider: „Das Gegenteil von Fleisch.“ Gedichte. DuMont Verlag, Köln 2003, 90 Seiten, 17,90 Euro.

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