Avantgarde, [wieder mal] abschließend

Der Dichter als Kunstmaschine, die aus der mathematisch peniblen Zählung und Reihung von Buchstaben oder Silben poetische Funken schlagen will – das ergibt keine „vollkommen sinnliche Rede“ (Lessing), sondern bestenfalls konzeptuellen Krampf. Um der Ödnis dieser seriellen Poesie zu entgehen, setzt Lentz im ersten Teil seines Buches auf deregulierende Verfahren, die mit alten Kinderliedern und Volksweisen operieren, aber sie durch syntaktische und semantische Verschiebungen neu aufladen: „noch eh ich was fromm draußen rein/ dem niemand frisst die stunde ein / will über smok und schweigen / der richter sich verneigen / und aller fragen offen.“ Nur mittels solcher Verschiebungs- und Entkoppelungsprozesse gerät die Sprache wieder in Bewegung; fast in jeder Gedichtzeile ist die Furcht des Autors spürbar, in leere Konvention zurück zu fallen. Die spätromantische, von einem Mörike-Gedicht evozierte Illusion, dass das Schöne „selig in sich selbst“ scheint, wird schroff negiert: „seit platon steht die sonne still/ und kein schatten der erde / kein wort / scheint selig in sich selbst.“ / Michael Braun, FR 19.4.03 über

Michael Lentz: Aller Ding. Gedichte. S. Fischer Verlag, Frankurt am Main 2003, 190 Seiten, 19,90€
(Vgl. auch Lyrik-Zeitung 03/2003)

[Bei Kunstmaschine, lieber Michael Braun, muß ich freilich zuerst an so fruchtbare und lebenslang überraschende Dichter wie Ernst Jandl oder Oskar Pastior denken, nach und mit Gertrude Stein: also nix Ödnis, nix Krampf, dafür viel Sinn- sowohl als -lich. Schöne Grüße! Wenn Sie übrigens Genaueres zur Verwendung dieses Wortes wissen: Mail genügt. Oder Replik?]

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