„stimmschlund, sibylle“

Nicolai Kobus, einer der intelligentesten Vertreter seiner Zunft, versuchte sich in einem hochfahrenden Dialog mit Baruch Spinoza und Ezra Pound. Der poetische Absturz war gewaltig. Zum Triumph führte das intertextuelle Spiel jedoch bei Anja Utler (Leonce-und-Lena-Hauptpreis, 8000 Euro), die ein Motiv der russischen Dichterkönigin Marina Zwetajewa aufnahm. Das klangspielerische Murmeln, Rätseln und Raunen um die legendäre Seherin Sibylle, die einst als Priesterin des Apoll das Orakel im italischen Cumae hütete, hat Utler durch stetige semantische und syntaktische Verschiebungen in ein hochmusikalisches Sprachereignis verwandelt: „sibylle so: gähnt sie, ächzt: schwingen die: stimmlippen, -ritzen sie / kratzen: hinweg übern kalk, scheuern, reißen ein: krater vom / becken zur kehle der: stimmschlund, sibylle, sie: zittert, vibriert…“. So konnte man die fast unglaubliche Verwandlung einer Dichterin bestaunen, die noch vor zwei Jahren in Darmstadt als eher unauffällige Verfasserin von Liebes- und Natur-Miniaturen auftrat. / Michael Braun zum Leonce-und-Lena-Preis, FR vom 19.3.03

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