Günter Kunert über Probleme mit Gedichten in Schnell-Lesezeiten

Wahrlich, ich lebe in Zeiten, da die Dichter wenig gelten. Vorbei die gute alte schlechte Zeit, während welcher man noch einander Gedichte vorlas, von ihren Worten bewegt oder erregt, zumindest im Einklang, in seelischer Übereinstimmung mit den Sprachgebilden. Und ganz unauffällig fand bei derlei gemeinsamen Unterhaltsamkeiten auch etwas statt, dass man mit einem trockenen Begriff „Belehrung“ nennen könnte. Nämlich Belehrung über das wundersame Wesen der Sprache.
Zeilen prägten sich dann einem ein. Verse blieben im Gedächtnis, Intonation und Rhythmus weckten die Aufmerksamkeit für Genauigkeit. In einem weitaus umfassenderen und auch strengerem Maße forderte die Dichtung, die Lyrik, etwas vom Leser oder Zuhörer, was ihm oft die Prosa nicht abverlangte. Nämlich sich um Verständnis für verbale Bilder zu bemühen und ihre Hintergründigkeit, manchmal auch ihre Rätsel zu ergründen.
Ich weiß, der heutige, auf Hurtigkeit gestrimmte Leser besitzt nicht mehr, was früher kostenlos vorhanden war, und zwar die Muße, um sich mit einem sprachlichen Kunstwerk zu befassen. Alles soll sofort kapiert werden, leicht verstanden, flüchtig aufgenommen, rasch vergessen.
(Laudatio auf Heinz Czechowski , Nordwest- Zeitung 26.11.01) – Aber woher weiß er das, übrigens? …

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